Debatte Nahost: Syriens ruhigste Provinz
Die Revolte in Syrien lässt den Libanon wie im Schock erstarren. Der Schatten des Assad-Regimes liegt schwer über dem Nachbarland.
D as Schweigen ist erschreckend. Zwar leben Hunderttausende Syrer im Libanon: Arbeiter aus den Unruheprovinzen Idlib, Dair az-Zaur oder Deraa, Studenten und auch Oppositionelle. Aber sie haben keine Stimme oder wagen es kaum, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. Solidaritätsaktionen von libanesischen Aktivisten für die Opfer der Proteste im Nachbarland sind rar gesät und schwach besucht. Kleine Demonstrationen von syrischen Arbeitern in Beirut oder im Süden des Landes wurden von einer Überzahl an Assad-Anhängern niedergeschrien und auseinandergetrieben.
Nur mit Mühe gelang es Kritikern des syrischen Regimes, in Beirut einen Ort zu finden, um eine Veranstaltung durchzuführen: Hotelbesitzer waren zuvor von libanesischen Parteien eingeschüchtert worden. In den libanesischen Medien werden solche Vorkommnisse in Randspalten abgehandelt: Die öffentliche Meinung schert sich nicht groß darum. Von der allgemeinen Begeisterung und Solidarität, welcher der ägyptischen Revolution Anfang des Jahres im Libanon entgegenschlug, können die Aufständischen in Syrien nur träumen.
Oft wird die offizielle syrische Position sogar gleich ganz übernommen. "Assads Reformen bekommen eindruckvolle Unterstützung des Volkes" titelte etwa die libanesische Tageszeitung as-Safir zwei Tage nach der letzten Rede des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Darunter war das Foto einer Menschenmenge zu sehen, die auf einem zentralen Platz in Damaskus für den Präsidenten demonstriert hat. Passend dazu schrieb der Chefredakteur Talal Salman in seiner Kolumne, die Syrer seien nun beruhigt, weil ihre Botschaft den Präsidenten erreicht habe, und lobte die vagen Reformschritte Assads.
Assads Sprachrohre in Beirut
45, ist freie Journalistin und Übersetzerin. Mit Khalid al-Maaly gab sie das "Lexikon arabischer Autoren" heraus (Palmyra Verlag, 2004). Bis 2007 leitete sie das Internetportal qantara.de. Seitdem lebt sie in Beirut.
Viele libanesische Medien tun sich schwer mit der Berichterstattung über das Nachbarland. Bei einigen sind die Gründe klar: Der Fernsehsender al-Manar, das Sprachrohr der Hisbollah, übernimmt die offizielle syrische Lesart der Ereignisse. Andere, wie as-Safir, bewegen sich im Zickzack: Einen Tag sprechen sie sich für Assad aus, an einem anderen Tag darf es etwas kritischer sein. Sogar in der syrienkritischen Zeitung al-Mustaqbal herrscht Zurückhaltung. Ein Redakteur der wöchentlichen Kulturbeilage berichtet von großer Angst vor eventuellen Racheakten prosyrischer Kräfte.
Viele Syrer haben in den letzten Wochen ihre Angst abgelegt und sind auf die Straße gegangen. Bei den Libanesen aber herrscht Apathie. Warum? Der libanesische Journalist Hazim al-Amin meint, dass ungefähr die Hälfte seiner Landesleute das politische System in Syrien als Vorbild betrachten würde; die andere Hälfte habe das System der Angst und der Unterwerfung aus dem Nachbarland verinnerlicht. Aber im Gegensatz zu den Syrern, die daran arbeiten würden, sich dieses Systems zu entledigen, hätten die Libanesen diese Tatsache noch nicht einmal erkannt, denn sie widerspricht ihrem Selbstbild.
Selbstbild und Wirklichkeit
Viele Libanesen beschreiben ihr Land gerne als relativ frei, demokratisch und mit einer pluralistischen Presselandschaft gesegnet. Sie sind stolz darauf, dass sie die israelische Armee zum Abzug aus dem Südlibanon gezwungen haben. Umso auffälliger jetzt das lautstarke Schweigen, dass dem Libanon wenig schmeichelhafte Kommentare eingebracht. Der Zedernstaat sei momentan wohl Syriens ruhigste und stabilste Provinz, ätzen Kritiker. Andere werfen der neuen libanesischen Regierung vor, sie sei nichts weiter als die Verlängerung der riesigen syrischen Fahne, die Anhänger des Regimes in Damaskus kürzlich entrollt haben.
Niemand schert sich darum, wie eng die Sicherheitskräfte beider Länder verflochten sind. Und als vor einigen Monaten ein schiitischer Scheich, der die Hisbollah kritisch sieht, bei der Einreise nach Syrien verhaftet wurde, war das öffentliche Interesse für diesen Fall gering. Und kein syrischer Deserteur, der im Zedernstaat Zuflucht sucht, kann heute sicher sein, dass er nicht abgeschoben wird.
Man kann viele Gründe für diese Situation anführen. Seit der Libanon zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem gemeinsamen französischen Mandatsgebiet mit Syrien hervorging, ist das Verhältnis zum großen Nachbarn ambivalent. Es gibt enge familiäre Verbindungen und Verflechtungen religiöser Institutionen, die wirtschaftlichen Beziehungen sind überlebenswichtig. Andererseits gibt es auch eine lange Geschichte von Einmischung, Allianzen, Kontrolle und Fremdbestimmung durch den großen Bruder. Syrische Truppen nahmen im libanesischen Bürgerkrieg aktiv Partei und gingen wechselnde Allianzen ein. Danach folgten die langen Jahre der Besatzung, ebenfalls im Bündnis mit einheimischen Kräften.
Ein "libanesischer Frühling"?
Nach der Ermordung des Präsidenten Rafik Hariri im Februar 2005 gingen Tausende auf die Straße und erzwangen den Abzug der syrischen Truppen aus ihrem Land. Diese "Zedernrevolution" war ein Vorbote des arabischen Frühlings - doch sie ist längst auf dem Rückzug. Nicht nur Syriens Verbündete - die "Bewegung des 8. März" aus Hisbollah, der christlichen "Freien Patriotischen Bewegung" des Exgenerals Michel Aoun und anderer kleinerer Parteien, die jetzt die Regierung stellen - gönnen dem Nachbarland keinen politischen Frühling.
Auch die "Allianz des 14. März", ein Bündnis der Bewegung von Saad al-Hariri mit christlichen Kräften, drückt sich um klare Stellungnahmen herum. Denn die "Zedernrevolution" von 2005 trieb zwar die syrische Armee aus dem Land, aber die Verflechtungen und Allianzen bestehen fort - und eine Aufarbeitung dieses Verhältnisses und eine selbstkritische Reflexion der eigenen Verstrickungen hat nie stattgefunden.
So wirkt das Land angesichts der Ereignisse in Syrien wie im Schock erstarrt. Freunde wie Feinde des Assad-Regimes haben panische Angst vor dem Tag, an dem es zusammenbrechen könnte - fast so wie vor dem Tag, an dem Israel als Feindbild wegfallen könnte. Es ist zu einem Eckpfeiler ihrer politischen Identität geworden - und sei es als Bösewicht, dem man alles anhängen konnte. Doch das Ende der Herrschaft der Baath-Partei in Syrien würde auch dem Libanon einen Frühling bescheren.
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