Debatte Kinderarmut: Zurück in die fünfziger Jahre
Unterschichtseltern? Versager! Dem materiellen Elend begegnet die Kinder- und Jugendhilfe nicht mit Protest und Hilfen sondern immer öfter mit Zwangsmaßnahmen.
K örperliche Züchtigung und Misshandlung, sexuelle Übergriffe und Zwangsarbeit: Der Bundestag hat einen runden Tisch einberufen, um Unrecht und Leid aufzuarbeiten, das Heimkindern vor 40 bis 50 Jahren angetan wurde. Diese Taten wurden möglich, weil die Jugendämter gerade gegenüber "Unterschichtsfamilien" auf eine strafende und disziplinierende Praxis setzten.
Seither hat sich die soziale Arbeit zwar grundlegend verbessert, dennoch versagt die Kinder- und Jugendhilfe auch heute, weil sie wie vor 50 Jahren in dem Denkfehler verharrt, für die Entwicklungsschäden von Kindern seien allein deren Eltern verantwortlich. Politische Entscheidungen, welche die Probleme in den Familien erst verursachen, werden ignoriert.
Die Kinder- und Jugendhilfe macht sich damit zur Bad Bank der menschlichen Kosten, die auf eine Spaltung in Arm und Reich zurückzuführen sind. In ihrem mühsamen Kampf gegen Kindeswohlgefährdung vernachlässigt sie ausgerechnet jenen Faktor, der das Kindeswohl derzeit am meisten gefährdet: die Kinderarmut.
Georg Rammer war als Diplompsychologe lange Zeit in der Kinder- und Jugendhilfe aktiv, etwa beim Psychosozialen Dienst der Stadt Karlsruhe. Er engagiert sich unter anderem bei Attac für den Kampf gegen Kinderarmut und für Verteilungsgerechtigkeit.
Inzwischen leben 2,5 Millionen Kinder an der Armutsschwelle. Rund 2 Millionen Minderjährige sind auf Hartz IV angewiesen, wie der aktuelle Monatsbericht für Juli ausweisen wird, den die Bundesagentur für Arbeit am Donnerstag veröffentlicht. Natürlich sind die allermeisten Kinder nicht von Misshandlung oder Vernachlässigung seitens ihrer Eltern bedroht.
Aber die schlechte soziale Lage, der alltägliche Stress und der erlebte Ausschluss führen dazu, dass die Kinder in ihrer Entwicklung massiv benachteiligt sind. Seelische und körperliche Krankheitssymptome treten bei ihnen um ein Vielfaches häufiger auf; sie haben eine um etwa zehn Jahre geringere Lebenserwartung als Kinder, die in Wohlstand und sicheren sozialen Verhältnissen leben. Bei der Bildung herrscht ebenfalls krasse Ungerechtigkeit.
Diese eindeutige Benachteiligung der Unterschichten hebelt Grundrechte aus und verletzt die UN-Kinderrechtskonvention. Und die Antwort der Kinder- und Jugendhilfe? Sie verstärkt allein die pädagogischen Hilfen und Kontrollen, obwohl sie nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichtet wäre, zum Abbau von Benachteiligung und zur Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien beizutragen.
So ist nachgewiesen, dass in Heimen ganz überwiegend Kinder und Jugendliche aus Armutsfamilien leben. Bekannt ist auch, dass die Hälfte der Kinder von allein erziehenden Müttern zu wenig zum Leben hat und auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Doch die Kinder- und Jugendhilfe beschränkt sich auf den Versuch von Reparatur und Linderung. Sozialpädagogik ersetzt den Protest bei Politik und Verfassungsgericht.
Nach der UN-Kinderrechtskonvention muss das Kindeswohl bei allen Maßnahmen oder Gesetzen vorrangig berücksichtigt werden, die Kinder betreffen. Doch Einwände von Jugendämtern gegen Hartz IV sind nicht bekannt, obwohl diese Reform die Kinderarmut etwa verdoppelt hat.
Auch gegen die Höhe der Regelsätze wurde nicht protestiert, obwohl sie nicht ausreichen, um ein Kind gesund zu ernähren. Im Übrigen hat die Bundesregierung bislang versäumt, den fälligen Bericht über den Stand der Umsetzung von Kinderrechten an den zuständigen UN-Ausschuss zu schicken.
Der Sozialwissenschaftler Hurrelmann hat nachgewiesen, dass nicht nur Armut, sondern auch die soziale Kluft Kinder krank macht. Er warnte: "Kinder können offensichtlich ein weiteres Auseinanderklaffen der Gesellschaft nicht verkraften." Er schrieb das 1995, lange bevor die Aufspaltung in Arm und Reich durch Agenda 2010 und Hartz IV eine Zuspitzung erfahren hat.
Vergeblich haben die Sachverständigen des Kinder- und Jugendberichts schon 2002 darauf hingewiesen, dass der Staat verpflichtet ist, erst mal die Grundbedingungen zur Förderung des Kindeswohls zu schaffen. Doch als verantwortlich für die Probleme der Kinder gelten stattdessen allein die Eltern: Die Zahl der Sorgerechtsentzüge stieg von 2005 bis 2007 um 23 Prozent; die Unterbringung in Heimen nahm allein 2007 um 17 Prozent zu.
Kinder werden viel häufiger als noch vor wenigen Jahren gegen den Willen ihrer Eltern aus der Familie genommen. So bekommen Jugendämter wieder den Charakter von Eingriffsbehörden, die statt Hilfe Kontrolle und Strafe zu bieten haben.
Dieser Trend wird durch das Kinderschutzgesetz verstärkt, das vom Bundesfamilienministerium ausgearbeitet wurde. Danach muss das Jugendamt bei jedem Verdachtsfall die Familie aufsuchen und das Kind in Augenschein nehmen - unabhängig von allen fachlichen Erwägungen.
Zu Recht kritisieren Fachorganisationen den vorgelegten Entwurf: Die toten Kinder Kevin und Lea-Sophie würden für den Wahlkampf instrumentalisiert, um ordnungspolitische Vorstellungen durchzusetzen. Der Gesetzentwurf belebt tatsächlich den Geist der 1950er-Jahre wieder, der "Unterschichtseltern" zu Versagern stempelt und dem persönlichen Elend mit staatlicher Überwachung und Strafe begegnet.
Die Politik rüstet sich für die absehbaren Folgen der Wirtschaftskrise und gegen die Opfer der wachsenden Ungerechtigkeit. Schon fordert der hessische Innenminister (wie auch der Berliner Innensenator) geschlossene Heime für "kriminelle Kinder" - im Extremfall sollen schon siebenjährige eingewiesen werden.
Wenn die Kinder- und Jugendhilfe hier nicht protestiert, wird sie zum Reparaturbetrieb einer ungerechten, gespaltenen Gesellschaft und stellt sich in den Dienst der aktuellen Politik, nicht aber der Rechte von Kindern.
In ihrer Organisation hat sich die Kinder- und Jugendhilfe ohnehin schon an die vorherrschende neoliberale Ideologie angepasst: Sie wurde Teil des Marktes für Dienstleistungen, sie erstellt "Produkte" für "Kunden" und begreift sich als Konzern, in dem der wichtigste Maßstab die Kosten-Nutzen-Rechnung nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien ist. Auf der Strecke bleibt die gesetzliche Verpflichtung, gegen die systematische Benachteiligung und für positive Lebensbedingungen Stellung zu beziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen