Debatte Kinderarmut in Deutschland: Ein Fall für Karlsruhe
Die Hartz-IV-Sätze für Kinder reichen kaum zum Leben aus. Das spielt für die neue Regierung offenbar keine Rolle. Dass Kinder so wenig bekommen, ist ein Unding.
W enn das Bundesverfassungsgericht ab heute über die Frage verhandelt, ob die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder mit dem Grundgesetz vereinbar sind, ist kein schnelles Urteil zu erwarten. Im Januar hatte das Bundessozialgericht in Kassel den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder als nicht grundgesetzkonform beurteilt. Denn dass Kinder weniger staatliche Unterstützung bekommen als Erwachsene, ist ein Unding (60 Prozent eines Erwachsenen, wenn sie jünger als 6 Jahre sind, 70 Prozent, wenn sie 6 bis 13 Jahre, und 80 Prozent, wenn sie 14 bis 17 Jahre alt sind). Kinder und Jugendliche haben schließlich eigene Bedürfnisse - manchmal sogar mehr als Erwachsene. Sie wachsen noch, weshalb sie mehr Kleidung und häufiger neue Schuhe als Erwachsene brauchen. Ihre Hartz-IV-Regelsätze aber wurden willkürlich festgelegt.
Wie hoch der Regelsatz für Kinder sein müsste, lässt sich nicht einfach vom Schreibtisch eines Ministerialbeamten aus entscheiden. Wenn ein 6- bis 13-jähriges Schulkind 251 Euro im Monat erhält, kann es gerade mal 3,11 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und 2,13 Euro im Monat für Schulmaterialien ausgeben. Damit kann man gar nicht auskommen, wenn allein das Mittagessen in mancher Kita schon 2 oder 3 Euro Euro kostet. Erst recht kann ein Kind nicht am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilnehmen, denn Nachhilfeunterricht, die Kinokarte und der Theaterbesuch kosten normalerweise Geld. Daher müsste der Regelsatz für Kinder jeweils um mindestens 100 Euro erhöht werden.
Im März 2007, also auf dem Höhepunkt des letzten Konjunkturaufschwungs, lebten von den 11,5 Millionen Kindern unter 15 Jahren, die es in Deutschland gibt, über 1,92 Millionen Kinder in Hartz-IV-Haushalten. Das ist der traurige Rekord für Kinderarmut in Deutschland. In der ostsächsischen Stadt Görlitz bezogen damals nicht weniger als 44,1 Prozent der Kinder Hartz IV, im bayerischen Starnberg waren es nur 3,9 Prozent. Das zeigt sehr deutlich, wie unterschiedlich die Armut regional verteilt ist.
Die neue Regierung täte gut daran, dieser Tatsache mit entsprechenden Korrekturen im Sozialgesetzbuch zu begegnen. Doch die Armut von Kindern und Jugendlichen hat in den bisherigen Verhandlungsrunden offenbar überhaupt keine Rolle gespielt. Die Koalition aus Union und FDP treibt in erster Linie die Sorge um, "Leistungsträger" und Besserverdienende könnten - auch für ihre Kinder - zu viele Steuern zahlen. In den Koalitionsverhandlungen waren sie sich einig in dem Ziel, den steuerlichen Grundfreibetrag für Kinder, wie im Wahlkampf versprochen, um ein Drittel auf die künftig für Erwachsene geltende Höhe von 8.004 Euro anzuheben und das Kindergeld, wie von der FDP verlangt, auf 200 Euro zu erhöhen.
Dabei handelt es sich freilich nicht um eine Entlastung "der" Familien, wie CDU/CSU und FDP behaupten, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Begüterten. Diese würden davon überproportional profitieren. Eltern mit einem geringen Einkommen hätten davon jedoch wenig - und die Empfänger von Transferleistungen mit noch so vielen Kindern gar nichts -, weil sie gar keine Einkommensteuer bezahlen und auch eine Erhöhung des Kindergeldes in vollem Umfang auf das Sozialgeld angerechnet würde. Während ein Chefarzt mit sieben Kindern demnächst kaum noch Einkommensteuer zahlen müsste, würde die Not der alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug also kein bisschen gelindert.
Wenn sich die soziale Lage von in Hartz-IV-Haushalten lebenden Kindern nicht verbessert, dürften Sozialkaufhäuser, Lebensmitteltafeln und Kleiderkammern bald einen weiteren Boom erleben. Wollte die neue Regierung der Kinderarmut in Deutschland wirksam begegnen, müsste sie die armen Kinderreichen statt der Reichen mit vielen Kindern materiell fördern. Nur bilden sozial Benachteiligte weder die Klientel der FDP noch vertreten die "christlichen Volksparteien" ihre Interessen, auch wenn Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen im Wahlkampf die Kinderarmut zu dem für sie drängendsten Problem erklärte.
Trostpflaster für Mittelschicht
Vergangene Woche verkündeten die Koalitionäre von Union und FDP, dass sie das Altersvorsorge-Schonvermögen für Hartz-IV-Bezieher in Höhe von bisher 250 Euro pro Lebensjahr auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen wollen. Gleichzeitig soll die Klausel entfallen, wonach eine selbst genutzte Immobilie bloß dann zum Schonvermögen gehört, wenn sie eine "angemessene Größe" hat. Schließlich werden die Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV erhöht.
Mit ihrem Maßnahmenpaket zum Hartz-IV-Komplex betreibt die künftige Regierungskoalition eine werbewirksam Imagepflege, um den ihr vorauseilenden Ruf "sozialer Kälte" zu entkräften. Darüber hinaus verteilt sie ein Trostpflaster an jene Transferleistungsempfänger, denen es noch verhältnismäßig gut geht. Doch hat in Ostdeutschland nur die Hälfte der Betroffenen überhaupt Vermögen, das geschont werden kann; eine Immobilie nennt bloß eine kleine Minderheit ihr Eigen. Auch die Möglichkeit des Zuverdienstes haben längst nicht alle, die Arbeitslosengeld II beziehen.
Diese Maßnahmen dürften überwiegend Angehörigen der Mittelschicht zugutekommen, die vor einer länger währenden Arbeitslosigkeit noch am ehesten private Altersvorsorge - etwa in Gestalt einer Kapitallebensversicherung - betreiben konnten. Außerdem profitieren Versicherungskonzerne und Banken davon. Es ist natürlich ein gutes Verkaufsargument, wenn ein Finanzprodukt vor der Anrechnung bei Hartz IV geschützt ist. Ist es bloß Zufall, dass die FDP, die sich wie keine andere Partei für ein höheres Schonvermögen bei der Altersvorsorge eingesetzt hat, mit Abstand die höchsten Großspenden aus eben dieser Branche erhält? Begünstigt werden natürlich auch die Bauindustrie und der Immobilienhandel - und jene Unternehmen, die dank der höheren Zuverdienstmöglichkeiten jetzt noch mehr Hartz-IV-Bezieher/innen als preiswerte Arbeitskräfte rekrutieren können. Das nennt man eine staatliche Subventionierung von Niedriglöhnen.
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