Debatte Kapitalismus: Wenn die Elite unbehelligt bleibt
Kapitalismuskritik ist wieder "in". Wichtiger aber ist, dass wir die Frage stellen, die uns unheimlich ist: Wie kam es so weit? Sonst sind die Wirtschaftsprobleme nicht zu lösen.
L esekreise, in denen Texte von Karl Marx durchgeknetet werden, sind wieder hoffähig. Für Erzbischof Reinhard Marx ist ein Kapitalismus ohne Ordnungsrahmen "menschenfeindlich". Attac hängt in der Börse Transparente auf. Kritische Wissenschaftler werden häufiger zu Talkrunden geladen. Possierliche linke Ornamente einer veritablen Krise.
Wolfgang Storz, geb. 1954, hat in den Sozialwissenschaften promoviert und war 2002 bis 2006 Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau". Soeben erschien von ihm: "Alles Merkel? Schwarze Risiken. Bunte Revolutionen".
Sonst bleibt alles beim Alten. Die ethischen Banken haben nicht fünf Millionen Kunden mehr und die Bankrotteure fünf Millionen weniger. Es gibt keine Massendemonstrationen, keine Unterschriftenaktion, die die Ablösung von Bankmanagern fordert. Die Bevölkerung empört sich am Küchentisch. Die regierende Politik verharrt in ihrer Rolle als Zahlmeister der (angeblich und tatsächlich) krisengeschüttelten Unternehmen, nimmt weder Zepter noch Heft in die Hand, sondern lässt sich flugs wieder von der Detailpolitik fesseln: Zahlen wir nun Konsumschecks aus oder nicht, wie schleppen wir unsere Autokonzerne, die Dinosaurier der Industriegesellschaft, durch die Rezession?
Es gibt keine Öffentlichkeit, die jene Politiker mit Hohngelächter überschüttet, die die Finanzmarktkrise erst mitproduziert haben und sich heute inszenieren, als seien sie schon immer gegen Renditewahn und für strengste Regeln gewesen. So wagt ein Franz Müntefering frech den Satz: Neoliberales Gedankengut, nein, davon sei er nicht einmal angeweht gewesen. War er nicht dabei gewesen, als die rot-grüne Regierung für Hegdefonds, Finanzinvestoren und das Ausschlachten der Deutschland AG den Weg frei machte? Als die designierte Kanzlerin Angela Merkel und der designierte Finanzminister Peer Steinbrück in den Koalitionsvertrag hineinschrieben, "nachdrücklich" müssten für den Finanzplatz Deutschland "Produktinnovationen und neue Vertriebswege" unterstützt werden und die Aufsicht möge "mit Augenmaß" handeln. Als der Bundestag im November 2003 mit erdrückender Mehrheit beschloss, Hedgefonds zuzulassen, erklärte die Regierung: "Der Finanzplatz Deutschland ist … reif für diese Produkte"; wohlgemerkt: Ein demokratisches Land ist reif für das Finanzprodukt.
Und nun wandeln sich diese Krisenproduzenten, ohne ein Wort zu verlieren, zu deren Manager. Sicher: Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, sagte jüngst auf einer Diskussion in Berlin, in Sachen Bankenaufsicht sei er "vom Saulus zum Paulus" geworden. Da denkt der Zuhörer: Donnerwetter, das ist doch was. Der nächste Satz lautet: Alle hätten Fehler gemacht, und Banker seien eben "auch nur Menschen". Ach so. - Waren und sind ihre Renditeziele nicht falsch, da maßlos? Ackermann: "Wir müssen so gut sein wie die Besten." Klare Ansage: Wir machen weiter so - mit einem kleinen bisschen mehr Aufsicht.
Ist nicht wenigstens ein bisschen Selbstkritik und Demut angebracht? Zumal die Eliten von Politik und Wirtschaft vorher wussten, wo es nachher enden würde. Oskar Lafontaine hat als Bundesfinanzminister bereits 1999 vor der Deregulierung der Finanzmärkte gewarnt. Alles, was gegen ihn vorgetragen wird, ändert nichts an der Erkenntnis: Er hat die Lage frühzeitig richtig analysiert und diese Analyse gegen einen mächtigen Mainstream verteidigt. Als er aus dem Amt floh, reagierte die Börse mit einem Kursfeuerwerk. Sie wusste: Der Richtige geht. Wer ihm nicht zuhören kann, der liest dafür sicher regelmäßig Die Zeit. Helmut Schmidt schrieb Anfang 2007 den Text "Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten". Auch dort stand alles drin.
Wir werden keine Lehren aus dieser Krise ziehen können, so lange verantwortliche Bankmanager und verantwortliche Politiker nicht öffentlich eingestehen, dass ihre Politik grundlegend falsch war; ob aus eigener Einsicht oder aufgrund von politischem Druck. Erst dann ist die Grundlage vorhanden, die Politik des Landes glaubwürdig neu zu justieren.
Bei dieser Neujustierung geht es um drei bedeutende Punkte. Bisher ist die Frage ohne Antwort, was diese Krise im Kern ausmacht. Es gibt die These: Mit der Privatisierung der Rentensysteme, Renditewahn und Steuersenkungen einerseits und Niedriglohn andererseits floss immer mehr Geld in wenige private Hände und damit auf den Finanzmarkt, wo es rentierliche Anlagen sucht. Um überhaupt Anlagen für dieses sich ständig vermehrende Geld zu haben, deshalb würden immer riskantere Finanzprodukte erfunden. Wenn das so ist, dann müsste zuallererst die Quelle, aus der die Risiken sprudeln, ausgetrocknet werden: mit einer Rückverteilung von oben nach unten und einer vom privaten in den öffentlichen Sektor. Gerechtigkeit wäre dann die einzig nachhaltige Antwort auf die Finanzmarktkrise. Diese These muss nicht stimmen. Aber die möglichen Antworten auf diese Frage müssen erörtert werden.
Die Politik muss sich ihrer Macht wieder bewusst werden, ohne sich ihrer früheren Allmacht hinzugeben. Es gehörte zu der Phase des Marktradikalismus in sich schlüssig dazu, die Politik zum Vollstrecker von Sachzwängen, die Demokratie zur Bürokratie zu degradieren. Die Globalisierung erzwinge das und jenes, es gebe keine Alternative, es gebe nur noch eine moderne Wirtschaftspolitik - die Sprüche sind in den Köpfen. Die Krise bringt nun die Spielräume an den Tag, die die Politik, auch die nationalstaatliche, wirklich hat. Sachzwänge entpuppen sich als faule Ausreden. Sickerte allein das in Millionen Köpfe ein, dann erwirtschafteten wir aus toxischen Zertifikaten höchste Renditen.
Noch eines. Die Öffentlichkeit sollte sich mit einer Frage beschäftigen, die ihr unheimlich sein muss: Wie kam es so weit? Alles, was jetzt die Krise ausmacht, war das Nonplusultra. Für eine mächtige Mehrheit war es selbstverständlich, dass mindestens 25 Prozent Gewinn auf das Eigenkapital sein müssen, dass Finanzinvestoren und Hedgefonds, die mit Unternehmen und Bananen handeln, Teil einer guten Zukunft sind, dass es die vornehmste Aufgabe eines Bürgers sei, Ich-AG zu sein. Friedrich Merz und Josef Ackermann waren die auf dem Schild getragenen Glaubenskrieger des Marktradikalismus. Die CDU buhte Norbert Blüm, ihren Altmeister der gesetzlichen Rente, aus, und die heutige Kanzlerin schunkelte, berauscht von Gesundheitsprämie und Bierdeckelreformen. Für all diese Positionen gab es erdrückende Mehrheiten im Bundestag - nicht bei den Wählern -, gab es eine Gleichschaltung in allen wichtigen Medien, als ob diese Mediendemokratie richtiger doch Medienkapitalismus hieße. Dagegen waren die Randständigen. Und diejenigen, die dagegen waren, wurden Randständige.
Jetzt ist auf einmal alles ein bisschen anders, ohne ein Wort der Vielen zu ihrer stillschweigenden Umkehr. Bis zum nächsten Schwenk? Friedhelm Hengsbach, Sozialethiker, sagt, das sei ein "kollektiver Wahn" gewesen. Sibylle Tönnies hat jüngst in einem bemerkenswerten Aufsatz in dieser Zeitung über "die religiöse Grundlage der Laisser-faire-Ideologie" geschrieben.
Selten zuvor lag eine so veritable Krise demokratietheoretisch gesehen zeitlich so günstig. 2009 wird viel gewählt, auch der neue Bundestag. Lehren und Konsequenzen könnten also zügig aufeinanderfolgen.
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