Debatte Hessens Koalition: Macchiavelli meint nicht Ypsilanti
Das moderne politische Denken Europas beginnt mit einer recht unsentimentalen Verteidigung des Wortbruchs. Dafür gibt es Gründe. Für Hessen gelten die jedoch nicht.
Um jede Unklarheit auszuschließen: Ich bin - in der Sache - für rot-rot-grüne Bündnisse und zwar für möglichst viele, möglichst bald und vor allem auch im Bund! Aber: Über einen Wortbruch ermöglicht, würde dies hoffnungsträchtige Projekt für alle Zukunft beschädigt.
Presse, politische Klasse, Staatsanwälte und Finanzfahnder veranstalten derzeit eine instrumentierte Hatz auf Steuerhinterzieher, und gerade die Politik bemüht schwerstes moralisches Kaliber, das von wuchtiger Wortmunition wie "Abschaum" bis hin zu einem Feuerwerk von J.-F.-Kennedy-Zitaten reicht. Auf den ersten Blick fragt sich jedoch, warum der Bruch eines Wahlversprechens weniger wiegen soll als das Hinterziehen von Steuern - zumal dann, wenn er von eben jenen Politikern angedacht wird, die mit höchster Entrüstung auf die Steuersünder zeigen. Wie immer zeigt sich, dass eine solch hochmoralische Argumentation ein zweischneidiges Schwert sein kann.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung über (politische) Moral hätte zunächst zu klären, warum man Versprechen überhaupt halten muss sowie ob - und wenn ja, unter welchen Umständen - ein (politisches) Versprechen gebrochen werden darf.
Versprechen sind Institutionen des Alltags, sprachliche Handlungen, in denen Personen sich anderen Personen gegenüber auf ein zukünftiges Tun oder Unterlassen festlegen und damit deren Handeln zu beeinflussen versuchen. Dass Versprechen die Beziehungen zwischen Menschen auf Dauer stellen und Erwartungssicherheit schaffen, funktioniert deshalb, weil sie von einem knappen, kostbaren Gut gedeckt sind: von Vertrauen. Vertrauen ist die Bereitschaft, sich anderen in eigener Verletzlichkeit auszusetzen. Sich von einem Barbier mit scharfer Klinge den Hals rasieren zu lassen, erfordert Vertrauen. Ob Vertrauen begründet ist, erweist sich daran, ob die Personen, denen man vertraut, in der Vergangenheit ihre ausdrücklich oder auch in ihrem regelmäßigen Verhalten gegebenen Versprechen gehalten haben.
Freilich beginnt das moderne politische Denken Europas mit einer unsentimentalen Verteidigung des Wortbruchs. Macchiavellis "Il Principe" erschien 1532. Dort lesen wir im achtzehnten Kapitel: "Wie löblich es für einen Fürsten ist, sein Wort zu halten und aufrichtig statt hinterlistig zu sein, versteht ein jeder; gleichwohl zeigt die Erfahrung unserer Tage, dass diejenigen Fürsten Großes vollbracht haben, die auf ihr gegebenes Wort wenig Wert gelegt und sich darauf verstanden haben, mit List die Menschen zu hintergehen." Schon Macchiavelli hält jenes Argument bereit, jenes einzige Argument, das einen Wortbruch scheinbar rechtfertigen könnte, nämlich: dass sich die Umstände geändert haben und - so könnte man jetzt mit Max Weber anfügen - es nun verantwortungsethisch gesehen um ein größeres Gut geht. "Wären alle Menschen gut", so Macchiavellis Schluss, "dann wäre diese Regel schlecht; da sie aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber nicht halten würden, brauchst auch du dein Wort ihnen gegenüber nicht halten."
Tatsächlich gibt es einige wenige gute Gründe dafür, gegebene politische Versprechen nicht zu halten. Erstens dann, wenn die Mittel zum Halten des Versprechens schlicht und ergreifend nicht gegeben sind: wenn also etwa die Haushaltslage auch beim Ausreizen sämtlicher Spielräume die Finanzierung noch so sinnvoller Projekte schlicht und ergreifend nicht zulässt: Jedes moralische Sollen setzt ein Können voraus! Zweitens, wenn das gegebene Versprechen von Anfang an unmoralisch war: So wäre ein demokratischer Faschist, der Wahlen genau deshalb gewonnen hat, weil er versprochen hat, die Menschenrechte einer größeren Bevölkerungsgruppe zu beeinträchtigen, und den nach gewonnener Wahl Gewissensbisse quälen, nicht verpflichtet, dies Versprechen zu halten.
Aber all das hat mit der hessischen Lage nichts zu tun: Der Wille des Souveräns, dem man verpflichtet sein könnte, ist in jeder Hinsicht uneindeutig; andere Möglichkeiten der Regierungsbildung sind grundsätzlich möglich, und vor allem: Das gegebene Versprechen, sich nicht von der Linkspartei wählen zu lassen, war vielleicht politisch dumm, aber gewiss nicht von vornherein unmoralisch.
Späte Anhänger Macchiavellis mögen nun utilitaristische Einwände derart erheben, dass man sich erstens nicht so haben solle, zweitens die anderen auch nicht besser seien und es schließlich um höhere Güter, nämlich die Abschaffung von Studiengebühren, mehr soziale Gerechtigkeit sowie um ein durchlässiges Bildungssystem gehe - womit man im Bereich der Abwägung wäre. In diesem Fall wäre es freilich ein Leichtes, weiter abzuwägen: dass nämlich die Aufkündigung moralischer Prinzipien durch Angehörige der politischen Klasse die Legitimität der Demokratie unterminieren wird.
Womöglich sollte man sich erst gar nicht auf den abschüssigen Pfad des Abwägens begeben. Immanuel Kant jedenfalls hat in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" den Bruch eines Versprechens für sinnlos und selbstwidersprüchlich zu erweisen gesucht: Wer einmal ein Versprechen aufkündigt, demonstriert damit nur, in einer Welt leben zu wollen, in der es überhaupt keine Versprechen und damit keine Erwartungssicherheit auch für ihn selbst mehr gibt. Denn wie wollte jemand begründen, dass ausgerechnet sein Vertrauensbruch entschuldbar ist, der anderer Personen jedoch nicht? Kant war zudem der Überzeugung, dass die "Treue im Versprechen" einen inneren Wert repräsentiert, der auf der Pflicht zur Bewahrung von Würde und Autonomie sowohl jener, die Versprechen geben, als auch jener, die sie erhalten haben, beruht.
Das mag altfränkisch und unrealistisch klingen. Indes: Sowohl Kurt Beck als auch ganz besonders Andrea Ypsilanti haben in geradezu unheimlicher Weise bewiesen, wie recht Kant hat. So hat sich die sympathische hessische Spitzenkandidatin als moralische Person bereits aufgegeben. Keine böse Nachrede ist es, dass sie auf Fragen nach ihrer Bereitschaft, sich eventuell mit Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, gesagt hat: "Das ist nicht mal in mir selbst entschieden." Andrea Ypsilanti sagte nicht etwa: "Das habe ich noch nicht entschieden", sondern, und man muss sich ihre Aussage auf der Zunge zergehen lassen: "Das ist nicht in mir entschieden." Die Kandidatin als Hohlraum, in dem irgendwelche anonymen Prozesse vor sich gehen. Indem sich Frau Ypsilanti als verantwortliche und entscheidungsfähige Person vor laufenden Kameras zerstört und so für das Land Hessen erhebliche Entscheidungen unbelangbaren Instanzen, die mit ihrer Person nicht identisch sind, überlassen hat, begab sie sich sogar des Restkapitals einer "verantwortungsethischen" Politikerin. Denn sogar von Personen, die sich an Macchiavellis "Principe" orientieren, wäre doch wenigstens zu erwarten, dass sie ihre Entscheidungen selbst treffen und zu deren Folgen stehen.
MICHA BRUMLIK
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