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Debatte Hessens KoalitionMacchiavelli meint nicht Ypsilanti

Kommentar von Micha Brumlik

Das moderne politische Denken Europas beginnt mit einer recht unsentimentalen Verteidigung des Wortbruchs. Dafür gibt es Gründe. Für Hessen gelten die jedoch nicht.

Um jede Unklarheit auszuschließen: Ich bin - in der Sache - für rot-rot-grüne Bündnisse und zwar für möglichst viele, möglichst bald und vor allem auch im Bund! Aber: Über einen Wortbruch ermöglicht, würde dies hoffnungsträchtige Projekt für alle Zukunft beschädigt.

Presse, politische Klasse, Staatsanwälte und Finanzfahnder veranstalten derzeit eine instrumentierte Hatz auf Steuerhinterzieher, und gerade die Politik bemüht schwerstes moralisches Kaliber, das von wuchtiger Wortmunition wie "Abschaum" bis hin zu einem Feuerwerk von J.-F.-Kennedy-Zitaten reicht. Auf den ersten Blick fragt sich jedoch, warum der Bruch eines Wahlversprechens weniger wiegen soll als das Hinterziehen von Steuern - zumal dann, wenn er von eben jenen Politikern angedacht wird, die mit höchster Entrüstung auf die Steuersünder zeigen. Wie immer zeigt sich, dass eine solch hochmoralische Argumentation ein zweischneidiges Schwert sein kann.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung über (politische) Moral hätte zunächst zu klären, warum man Versprechen überhaupt halten muss sowie ob - und wenn ja, unter welchen Umständen - ein (politisches) Versprechen gebrochen werden darf.

Versprechen sind Institutionen des Alltags, sprachliche Handlungen, in denen Personen sich anderen Personen gegenüber auf ein zukünftiges Tun oder Unterlassen festlegen und damit deren Handeln zu beeinflussen versuchen. Dass Versprechen die Beziehungen zwischen Menschen auf Dauer stellen und Erwartungssicherheit schaffen, funktioniert deshalb, weil sie von einem knappen, kostbaren Gut gedeckt sind: von Vertrauen. Vertrauen ist die Bereitschaft, sich anderen in eigener Verletzlichkeit auszusetzen. Sich von einem Barbier mit scharfer Klinge den Hals rasieren zu lassen, erfordert Vertrauen. Ob Vertrauen begründet ist, erweist sich daran, ob die Personen, denen man vertraut, in der Vergangenheit ihre ausdrücklich oder auch in ihrem regelmäßigen Verhalten gegebenen Versprechen gehalten haben.

Freilich beginnt das moderne politische Denken Europas mit einer unsentimentalen Verteidigung des Wortbruchs. Macchiavellis "Il Principe" erschien 1532. Dort lesen wir im achtzehnten Kapitel: "Wie löblich es für einen Fürsten ist, sein Wort zu halten und aufrichtig statt hinterlistig zu sein, versteht ein jeder; gleichwohl zeigt die Erfahrung unserer Tage, dass diejenigen Fürsten Großes vollbracht haben, die auf ihr gegebenes Wort wenig Wert gelegt und sich darauf verstanden haben, mit List die Menschen zu hintergehen." Schon Macchiavelli hält jenes Argument bereit, jenes einzige Argument, das einen Wortbruch scheinbar rechtfertigen könnte, nämlich: dass sich die Umstände geändert haben und - so könnte man jetzt mit Max Weber anfügen - es nun verantwortungsethisch gesehen um ein größeres Gut geht. "Wären alle Menschen gut", so Macchiavellis Schluss, "dann wäre diese Regel schlecht; da sie aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber nicht halten würden, brauchst auch du dein Wort ihnen gegenüber nicht halten."

Tatsächlich gibt es einige wenige gute Gründe dafür, gegebene politische Versprechen nicht zu halten. Erstens dann, wenn die Mittel zum Halten des Versprechens schlicht und ergreifend nicht gegeben sind: wenn also etwa die Haushaltslage auch beim Ausreizen sämtlicher Spielräume die Finanzierung noch so sinnvoller Projekte schlicht und ergreifend nicht zulässt: Jedes moralische Sollen setzt ein Können voraus! Zweitens, wenn das gegebene Versprechen von Anfang an unmoralisch war: So wäre ein demokratischer Faschist, der Wahlen genau deshalb gewonnen hat, weil er versprochen hat, die Menschenrechte einer größeren Bevölkerungsgruppe zu beeinträchtigen, und den nach gewonnener Wahl Gewissensbisse quälen, nicht verpflichtet, dies Versprechen zu halten.

Aber all das hat mit der hessischen Lage nichts zu tun: Der Wille des Souveräns, dem man verpflichtet sein könnte, ist in jeder Hinsicht uneindeutig; andere Möglichkeiten der Regierungsbildung sind grundsätzlich möglich, und vor allem: Das gegebene Versprechen, sich nicht von der Linkspartei wählen zu lassen, war vielleicht politisch dumm, aber gewiss nicht von vornherein unmoralisch.

Späte Anhänger Macchiavellis mögen nun utilitaristische Einwände derart erheben, dass man sich erstens nicht so haben solle, zweitens die anderen auch nicht besser seien und es schließlich um höhere Güter, nämlich die Abschaffung von Studiengebühren, mehr soziale Gerechtigkeit sowie um ein durchlässiges Bildungssystem gehe - womit man im Bereich der Abwägung wäre. In diesem Fall wäre es freilich ein Leichtes, weiter abzuwägen: dass nämlich die Aufkündigung moralischer Prinzipien durch Angehörige der politischen Klasse die Legitimität der Demokratie unterminieren wird.

Womöglich sollte man sich erst gar nicht auf den abschüssigen Pfad des Abwägens begeben. Immanuel Kant jedenfalls hat in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" den Bruch eines Versprechens für sinnlos und selbstwidersprüchlich zu erweisen gesucht: Wer einmal ein Versprechen aufkündigt, demonstriert damit nur, in einer Welt leben zu wollen, in der es überhaupt keine Versprechen und damit keine Erwartungssicherheit auch für ihn selbst mehr gibt. Denn wie wollte jemand begründen, dass ausgerechnet sein Vertrauensbruch entschuldbar ist, der anderer Personen jedoch nicht? Kant war zudem der Überzeugung, dass die "Treue im Versprechen" einen inneren Wert repräsentiert, der auf der Pflicht zur Bewahrung von Würde und Autonomie sowohl jener, die Versprechen geben, als auch jener, die sie erhalten haben, beruht.

Das mag altfränkisch und unrealistisch klingen. Indes: Sowohl Kurt Beck als auch ganz besonders Andrea Ypsilanti haben in geradezu unheimlicher Weise bewiesen, wie recht Kant hat. So hat sich die sympathische hessische Spitzenkandidatin als moralische Person bereits aufgegeben. Keine böse Nachrede ist es, dass sie auf Fragen nach ihrer Bereitschaft, sich eventuell mit Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, gesagt hat: "Das ist nicht mal in mir selbst entschieden." Andrea Ypsilanti sagte nicht etwa: "Das habe ich noch nicht entschieden", sondern, und man muss sich ihre Aussage auf der Zunge zergehen lassen: "Das ist nicht in mir entschieden." Die Kandidatin als Hohlraum, in dem irgendwelche anonymen Prozesse vor sich gehen. Indem sich Frau Ypsilanti als verantwortliche und entscheidungsfähige Person vor laufenden Kameras zerstört und so für das Land Hessen erhebliche Entscheidungen unbelangbaren Instanzen, die mit ihrer Person nicht identisch sind, überlassen hat, begab sie sich sogar des Restkapitals einer "verantwortungsethischen" Politikerin. Denn sogar von Personen, die sich an Macchiavellis "Principe" orientieren, wäre doch wenigstens zu erwarten, dass sie ihre Entscheidungen selbst treffen und zu deren Folgen stehen.

MICHA BRUMLIK

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Autor und Kolumnist
1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“

3 Kommentare

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  • HD
    Helmut Dierlamm

    Frau Ypsilanti will ihr Wort nicht brechen, und sie will Koch nicht Ministerpräsident bleiben lassen. Dieser Zwiespalt ist echt und disqualifiziert sie keineswegs als Politikerin.

    Dumm, dass sie jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausgeschlossen hat. Nun muss sie entweder diese Zusage brechen, oder Koch bleibt (womöglich mit in einer Koalition mit der SPD) Ministerpräsident, obwohl es eine programmatische rot-rot-grüne Mehrheit gegen ihn gibt.

    Einen größeren Verrat an ihren Wählern und an ihrem Programm, als Koch im Amt zu lassen könnte Ypsilanti nicht begehen, dagegen ist eine gedultete Duldung durch die Linkspartei wirklich ein Klax.

    Keinem der rechten SPD-Kritiker an einer Zusammenarbeit mit der Linken, geht es um die moralische Kategorie des Wortbruchs. Sie alle kennen sich mit gebrochenen Wahlvesprechen bestens aus, und sie haben große Angst vor einem Umwelt- und Wirtschaftsminister Scheer, der mit der denkbar größten fachlichen Kompetenz eine Politik machen könnte, die dem Klima nutzt und den Energiekonzernen schadet.

    Es ist kein Wunder, dass der Flügel in der SPD, der seine Gesetze einst von den Energiekonzernen schreiben ließ -- Leute wie Clement, der jetzt als Aufsichtsrat der RWE Power AG den Lohn einfährt, aber auch der ehemalige Kanzler der Bosse höchstselbst, der jetzt bei Gasprom selber Boss ist, vor eine solche reale Alternative zu ihrer Politik fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

    Was ist moralisch verwerflicher, wenn eine SOZIALdemokratische Partei sich von einer anderen linken Partei entgegen ihrer ursprünglichen Aussage dulden lässt, oder wenn sie den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik durchzieht (auf Kosten der Alten, Kranken, Arbeiter und Arbeitslosen) und dabei den Konzernen durch Steuersenkungen und Amnstiegesetze die Milliarden für ihre Stiftungen in Liechtenstein nur so in den Arsch bläst.

     

    Ypsilanti muss die Chance kriegen, wirklich mal sozialdemokratische Politik zu machen.

    Wer (implizit) verlangt, dass sie Koch weiterregieren lässt, nachdem er seinen zweiten ausländerfeindlichen Law-and-Order-Wahlkampf nicht mehr gewonnen hat, der hat bestimmt die rechte SPD, die FDP und die CDU/CSU auf seiner Seite, aber nie im Leben die Moral, auf die sich Ypsilantis Kritiker so überaus scheinheilig berufen.

  • LV
    Lukas van der Meer

    Die Frage, warum alle Parteien in Hessen Koalitionsaussagen wie inhaltliche Versprechen vor der Wahl abgegeben haben, ist zentral für die Beurteilung der Folgen. Alle glaubten, mit ihrem jeweiligen Versprechen die Zahl ihrer Wähler zu maximieren. Alle informierten Politiker wie Wähler wissen, dasss derartige Versprechen seit Jahrzehnten in Deutschland wie anderswo reine Parteipropaganda zur Erlangung eigener Macht sind und auf der Verachtung der Intelligenz der Wähler beruhen. Da Medien und mangelhafte Bildung bzw. schlechtes Wählergedächtnis mitspielen, ist dieses demokratiefeindliche Kalkül in der Verganngenheit oft aufgegangen, hat aber ständig Politikverdrossenheit produziert bzw. Herr Brumlik, die "Legitimität der Demokratie unterminiert." Es gibt kein richtiges Verhalten im Falschen: Der Gesamt-Wähler hat mindestens eine Partei gezwungen, mindestens eines ihrer "Versprechen" (die nie ernst gemeint waren) zu brechen, da es sonst keine Regierung oder die blanke Verachtung des Wählerwillens gäbe, sprich Koch, der weiterregiert. Daher muss eine Partei abwägen, was schwerer wiegt: Ihre nie ernstgemeinte Koalitionsaussage, oder ihre inhaltlichen Vorschläge. Diese Frage zu stellen bedeutet natürlich sie sofort zu beantworten: den Wähler interessiert die Politik, nicht wer sich die Macht sichert. Genauso philisterhaft ziehen sofort die, die ihre eigenen koalitionsaussagen auch nicht ernst meinten nun über die her, die angeblich als einzige ihr Versprechen brechen. Und Medien mischen munter mit ...

  • AZ
    anke zöckel

    Ich denke, die Sache ist sehr viel simpler, als Herr Brumlik (vermutlich im Interesse der Zeilenanzahl, die er an die taz zu liefern versprochen hat) glaubt. Frau Ysilanti hat nämlich nicht nur ein Versprechen gegeben, sondern gleich mehrere. Wobei es keineswegs ausschließlich in ihrer eigenen Macht gelegen hat, all diese Versprechen gleichermaßen und vollständig einzuhalten.

     

    Leider hat sie die Konsequenzen ihres Wahlkampfes nicht vorhergesehen. Sie ist eben auch nur ein Mensch, noch dazu einer, der vergleichsweise neu im Geschäft ist. Selbst Koch, ein "alter Hase" in der Landespolitik, hat sich (den Hessen sei Dank) verspekuliert. Shit happens, wie man heute so schön sagt. Frau Ypsilanti jedenfalls hat ganz offensichtlich viel zu sehr vertraut (auch das ist menschlich, wenn auch riskant). Auf ihre diversen Berater nämlich und diese wiederum haben auf DEN Wähler vertraut. DER Wähler, so die Annahme der Berater, würde ein Nie-mit-der-Linken-Wahlversprechen mit einer eigenen SPD-Mehrheit honorieren, zumindest jedoch mit einer Stimmenzahl, aus der sich eine Linke-freie Regierung formen lässt, welche die übrigen Wahlversprechen der SPD-Frau zur Realität machen kann. Das Problem der Dame besteht nun darin, dass DER Wähler nicht gehalten hat, was ihre-Berater sich (und ihr) von ihm versprochen haben. DERr Wähler hat vielmehr zusammengewählt, was vor dem Hintergrund eines einzelnen Berater-Versprechens nicht regierungsfähig ist. Mag sein das liegt daran, dass DER Wähler, anders als die Berater geglaubt haben, keineswegs nur eine Einzelperson ist, die es zu überzeugen galt - ein launischer Souverän etwa, der (um es seinem Vater-Vorgänger endlich richtig zu zeigen) in die Geschichtsbücher einzugehen wünscht. Der Wähler ist vielmehr eine durch und durch ?multiple? Persönlichkeit.

     

    Wer multiplen Persönlichkeiten zutraut, dass sie sich in ihrem Verhalten durch gegebene Versprechen beeinflussen lassen, ist selbst Schuld, finde ich (oder mit Herrn Brumlik zu sprechen: Jedes MORALISCHE Sollen setzt ein Können voraus). Mit meiner Vorstellung von Moral ist ein Leichtsinn, wie ihn die SPD Wahlberater (wer auch immer sie gewesen sein mögen) an den Tag gelegt haben, jedenfalls kaum zu vereinbaren. Wenn Frau Ypsilanti erwartet hat, dass die genannten Damen und Herren (waren überhaupt Damen dabei?) ihr nun einen Weg aus dem von ihnen verursachten Dilemma zeigen werden, könnte sie sich empfindlich geirrt haben. Das ist schade, finde ich. Vor allem wegen der übrigen Versprechen, die sie ihren Wählern seinerzeit gegeben hat. Man soll ohnehin Verwirrte schließlich nicht zusätzlich brüskieren. Das macht sie bloß noch unberechenbarer.

     

    Was nun den angeblichen Bruch des Nicht-mit-der-Linken-Wahlversprechens angeht: Nicht die Umstände haben sich geändert, sondern die Wahrnehmung dieser Umstände. Das Glas ist, anders als Herr Macciavelli zu glauben bereit war, nie ganz leer oder ganz voll. Es ist genau zur Hälfte gefüllt. Will sagen: Ob es mehr ?gute? oder mehr ?schlechte? Menschen (welch eine Einteilung!) gibt, ist schlicht eine Frage des persönlichen Standpunktes. Man sieht nur das wirklich deutlich, was einem vergleichsweise nahe ist. Mit der Entfernung schwindet die Größe jedes Gebirges, und zwar mitunter ganz erheblich. Mag sein, der eine oder andere SPD-Berater hat entschieden zu viel Zeit hinterm großen Teich oder auf edlen Empfängen verbracht. Genau wie Herr Macciavelli.

     

    Übrigens: Der Irrtum an sich, sehr geehrte Frau Ypsilanti, ist keineswegs unmoralisch. Unmoralisch ist es bloß, seine Irrtümer (ebenso, wie die anderer Leute) für unverzeihlich und vor allem für unkorrigierbar zu halten. Nur wer aufgibt, handelt wirklich unmoralisch. Glauben Sie mir: Ich weiß, wovon ich schreibe.