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Debatte GrüneDer misslungene Spagat

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Nach Stuttgart 21 wird es den Grünen ergehen wie dem Streber, der in jeder Klassenarbeit eine Eins schreibt. Aber bei der Wahl des Klassensprechers hat er keine Chance.

D ie Schwaben haben entschieden: Der unterirdische Bahnhof in Stuttgart soll gebaut werden. Den Grünen obliegt es nun, den Volkswillen entgegen ihrer politischen Überzeugung umzusetzen. Müssen sie sich jetzt nicht sorgen, dass sich ihre Wähler vergraulen?

Keineswegs. Das Votum der Baden-Württemberger hat die leidige Stuttgart-21-Frage überraschend klar entschieden. Selbst in der Landeshauptstadt, wo ihre eigene bürgerliche Klientel auf die Straße ging, ist die Mehrheit für das Megaprojekt. Das ist, so paradox es klingt, für die Partei gar nicht schlecht. Ein diffuses Ergebnis - Mehrheit gegen den kostspieligen Bahnhof, Quorum unterschritten - wäre für Winfried Kretschmann schwieriger umzusetzen gewesen.

Und die vielgerühmten Wutbürger? Werden sie ihren Zorn jetzt nicht gegen die Umweltpartei richten? Nein, das werden sie nicht. Den Wutbürger zeichnet nämlich eine hohe Akzeptanz für demokratische Prozesse aus, ebenso goutieren er und sie die ehrliche und präzise Art, mit der Kretschmann seine Zwangslage früh argumentiert hat: Wenn die Bevölkerung es will, dann wird gebaut.

Nichts ist wichtiger als ein kluges Erwartungsmanagement, will man den politischen Schaden begrenzen. Kretschmann wusste das von Anfang an; die Berliner Grünen hingegen mussten diese Lektion erst schmerzhaft lernen. Das Problem der Grünen besteht derzeit nicht in einem Bahnhof. Es liegt woanders.

Positive Jahresbilanz

Dabei fällt ihre Jahresbilanz positiv aus. Neben dem historischen Sieg in Baden-Württemberg legten sie bei allen Landtagswahlen deutlich zu. Sie schafften es in Sachsen-Anhalt wieder in den Landtag, in Mecklenburg-Vorpommern gelang erstmalig der Einzug ins Parlament. In Rheinland-Pfalz sprangen sie aus der außerparlamentarischen Opposition direkt in die Regierung, und in Hamburg und Bremen verbesserten sie sich deutlich. Sogar in Berlin legten die Grünen ordentlich zu, auch wenn ihnen dieser Erfolg wegen der gescheiterten Koalitionsverhandlungen mit der SPD Klaus Wowereits nichts genützt hat.

Doch trotz dieser beeindruckenden Wahlerfolge, denen noch weitere folgen dürften, etwa in Schleswig-Holstein, dürften die Grünen einer eher trostlosen Zukunft entgegen gehen. So könnte es der siegreichen Partei ergehen wie dem Streber, der in jeder Klassenarbeit eine Eins schreibt – aber bei der Wahl des Klassensprechers trotzdem keine Chance hat. Den Grünen fehlt nämlich die Machtperspektive für 2013.

Dies ergibt sich nahezu zwangsläufig aus der Arithmetik einer sich prozentual und inhaltlich angleichenden Parteienlandschaft. Denn CDU und SPD sind zwar dem Anspruch nach noch Volksparteien, nicht aber dem Ergebnis nach. Gleichzeitig schließen die Grünen auf, sind aber noch zu schwach für den ersten Platz. Wenn nun drei Kleinparteien - Linkspartei, Piraten und FDP - in den nächsten Bundestag einziehen, hat Rot-Grün mit einer SPD, die prozentual in den niedrigen 30ern operiert, keine Mehrheit. Schuld daran ist nicht die Stärke der Grünen, sondern die Schwäche der SPD. Die Sozialdemokraten haben in diesem Wahljahr trotz der schlechten Performance von Schwarz-Gelb nur mäßig abgeschnitten.

Merkel wird die SPD wählen

Bild: Anja Weber
ULRICH SCHULTE

leitet das taz-Parlamentsbüro und schreibt vor allem über die Grünen und die Union.

Wegen dieser taktischen Konstellation steigt die Nervosität bei führenden Grünen, auch wenn sie auf dem Parteitag in Kiel seriös, selbstbewusst und siegesgewiss auftraten. Denn auch Schwarz-Grün ist keine überzeugende Option. Nicht, weil führende Grüne nicht dazu bereit währen. Aber warum sollte Angela Merkel 2013 die Grünen wählen?

Die Sozialdemokraten sind für die CDU allemal billiger zu haben, und hier spielt Stuttgart 21 dann doch noch eine Rolle für den Bund: CDU wie SPD hängen weiter der längst antiquierten Vorstellung an, Beton - Infrastrukturpolitik! Wachstum! Arbeitsplätze! - sei fortschrittlich. Eine Tatsache, die die SPD jetzt schon fleißig instrumentalisiert, um Merkel zarte Signale zu geben.

In diesem Dilemma setzen die Grünen auf Eigenständigkeit. Einerseits geben sie sich seriös, staatstragend und offen gegenüber der CDU. Sie stimmen beim Atomausstieg ebenso mit Merkels Koalition wie in wichtigen Europafragen. Die sorgfältig von der Spitze vorbereiteten Parteitagsbeschlüsse vermeiden jede Radikalität, sie wahren die Balance zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen und sind anschlussfähig zur Wirtschaft. So positionieren sich die Grünen als gesellschaftliche Kraft der ökologisch denkenden bürgerlichen Mitte, statt in der ökosozialen Nische hocken zu bleiben.

Gefährlich sind die Piraten

Zugleich versuchen sie, an den linken Rändern nicht allzu viele Wähler zu verlieren. Der Kontakt zur Öko-Bewegung - den viele Parteimitglieder nur noch für Folklore halten - wird von der Spitze sorgsam gepflegt. Vor Claudia Roth ist in Gorleben kein Feldweg sicher, Kretschmann musste in Kiel für seine Protestkritik öffentlich Abbitte leisten. Diese Strategie ist konsequent, wenn man regieren will.

Ein Trend aber ist für die Grünen richtig gefährlich, auch wenn er nicht klar politisch zu verorten ist. Mit der Piratenpartei hat ein Player die politische Bühne betreten, der den Grünen ein wichtiges Distinktionsmerkmal nimmt. Früher waren die Grünen jung, rebellisch und anders, jetzt sind es die Piraten. Alle Versuche der Partei, sich auf diese Konkurrenz einzustellen, wirken bemüht und hilflos. Weil die Grünen-Führung keine Glaubwürdigkeit bei Netzthemen ausstrahlt, weil Seriosität immer auch spießig wirkt und weil in diesem Feld für die Grünen harte Konflikte lauern.

Beim Urheberrecht etwa lassen sich die Interessen der Generation Internet - um die die Grünen mit den Piraten kämpfen - und die von Autoren, Künstlern oder Journalisten - die bisher Grün wählen - nicht so einfach übereinbringen. Weshalb die Grünen auf gequälte Kompromisse setzen, die Piraten aber auf Radikalität. Dass der neuen Partei die fertigen Konzepte und überhaupt Gesellschaftsentwürfe fehlen, ist dabei egal.

Die Generation, die von konventionellen Parteien und Politikstilen angeödet ist, hat jetzt eine coole Alternative. Und an den Grünen dürfte die seriöse Oppositionsarbeit hängen bleiben.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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12 Kommentare

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  • IN
    Ihr Nameoerwin42

    Die Grünen sind oben angekommen und haben sich in die Reihe der Altparteien eingereiht, jetzt ohne Ecken und Kanten. Sie sind angepasst, also abhaken.

    Ob aber die Piraten, von Merkel und Co nicht unterwandert und vom Verfassungsschutz (braunen V-Männern) nicht zermürbt werden bevor sie mit ihrer Arbeit beginnen können, bleibt abzuwarten. Ich werde sie unterstützen, selbst wenn ich weiterhin gemobbt werden sollte, von Mitglieder einer Altpartei.

  • A
    anke

    Das kommt davon, wenn eine Partei sich "Vordenker" leistet, die schon Jahre vor jeder Wahl den künftigen Sieg haarklein vorplanen müssen, und zwar dermaßen strategisch, dass nachher auch rein gar nichts mehr dazwischen kommen kann. Vermutlich kaufen auch die Grünen ihre Strategien inzwischen extern ein. Bei international renommierten Firmen, die für das gleiche Geld zuvor schon Autobauer, Großkanzleien, Lidl & co., Pleitebanken, die CDU und diverse Atomstromproduzenten beraten haben.

     

    Ehrlich, er ist zum kotzen, dieser Zeitgeist.

  • H
    hanfbauer

    Solange CDU/CSU mit der SPD zusammen über 60% der Stimmen erhalten, wird es leider keine Veränderung geben. Erst wenn eine Mehrheit für Grüne, Linke und Piraten in Sichtweite kommt, gibt es zumindestens wieder Hoffnung. Das dauert aber noch ein paar Jahre.

    Ein gemeinsames Projekt von Grünen, Linken und Piraten könnte die SPD in Verlegenheit bringen wenn man sich dabei auf das alte Motto von Willy Brandt beruft: "Mehr (direkte) Demokratie wagen"...

  • R
    reblek

    "Müssen sie sich jetzt nicht sorgen, dass sich ihre Wähler vergraulen?" - Das müssen sie in der Tat nicht, weil nicht diese "sich", sondern die sogenannten Grünen "sie" vergraulen.

  • T
    Thomas

    Man darf nicht vergessen, dass diese Regierung auch Atomkraftwerke betreibt und nicht den Mut hat, gegen den verfassungswidrigen Kauf dieser durch die Vorgängerregierung vorzugehen.

    Ohne Fukushima und nicht zuletzt auch ohne Stuttgart21 wären die Grünen jetzt genau da, wo sie hingehören: Im politischen Abseits. Herr Kretschmann versprach vor der Wahl, dass er Zahlungen an die Bahn stoppt weil sie laut Gutachten verfassungswidrig sind. Nach der Wahl sagte er unverblümt, er habe das Maul zu voll genommen. Dreister kann man seine Wähler nicht anlügen. Entweder man hat Ideale und steht für diese ein oder eben nicht. Aber nur den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen ist erbärmlich in meinen Augen.

    Ich habe in meinem Leben zwei Mal die Grünen gewählt. Das erste Mal sind die Grünen in den Kosovokrieg gezogen - deswegen wähl ich keine (ehemals) eingefleischten Pazifisten. Das zweite Mal war Stuttgart21,...

    In Baden-Württemberg bräuchten wir "nur" 1/6 aller Wahlberechtigten um den Landtag aufzulösen; evtl. wäre da sogar die CDU nicht ganz abgeneigt. Dann wäre der Weg frei für Piraten; die sagen wenigstens wenn sie keine Ahnung haben und haben noch Ideale. Und eine Fraktionssitzung im Wendland abzuhalten war eine schlaue Idee während die Grünen in Kiel so viel redeten, dass Stuttgart21 und der Castortransport praktisch komplett ignoriert werden konnten. Bravo Grüne, ihr seid im politischen Einheitsbrei angekommen.

  • HS
    Holger Schmidt

    Ein ganz netter Kommentar, bis zu dieser Stelle:

     

    "CDU wie SPD hängen weiter der längst antiquierten Vorstellung an, Beton - Infrastrukturpolitik! Wachstum! Arbeitsplätze! - sei fortschrittlich."

     

    Damit drücken Sie perfekt aus, warum die Grünen für Deutschland so gefährlich und schädlich sind.

     

    Weil Grüne eben lieber verfallende Bauten oder eine grüne Wiese haben, auf der sich dann ein paar Arbeitslose sonnen können, als zukunftsweisende Projekte, die Arbeitsplätze schaffen. Die Grünen sind fortschrittsfeindlich, innovationsfeindlich und stehen für eine rückwärtsgewandte und ewiggestrige Steinzeitökologie.

     

    Sie passen perfekt dazu und verteidigen diesen Ungeist auch noch.

  • TG
    Thomas Gauss

    an Herrn Ulrich Schulte:

     

    Ich habe bereits nach der ersten Zeile aufgehört zu lesen.

     

    "Die Schwaben habe entschieden."

     

    Ach? Waren also nur Schwaben zur Wahl zugelassen in BADEN-Württemberg?

     

    Wieso schreiben Sie über ein Land einen Artikeln, von dem Sie keinen blassen Dunst haben?

  • A
    Arne

    "Schuld daran ist nicht die Stärke der Grünen, sondern die Schwäche der SPD."

     

    -

     

    Tja. Vielleicht würds ja auch n bisschen was helfen, gegenüber Linken und Piraten ein paar Berührungsängste und jede Menge Hochmut abzubauen und sich einzugestehen, dass man zu den alteingesessenen, angepassten Mittelgroßen gehört, die ohne die kleinen mit klarer Botschaft verdammt noch mal am Arsch sind.

  • TN
    Thomas Neuhaus

    Immer das Gleiche !

     

    Es ist ja auch viel einfacher diese Art von Atikel zu schreiben, anstatt sich mal in ein Thema reinzuknieen. Aber egal in welches Blatt man schaut - keiner machts. Stattdessen liest man dann Artikel wie diese mit den üblichen "Analysen" - Thema austauschbar. Der "Wutbürger" ist eine Erfindung der Medien - mehr nicht. Hier ging es schlicht um eine Abwägung der Vor- und Nachteile eines Projektes mit denen sich die Menschen intensiv auseinandergesetzt haben - weils die Presse verpennt hat. Hier geht es darum, welchen Sinn es machen soll einen der leistungsfähigsten Bahnhöfe Deutschlands durch einen 8 gleisigen, nicht erweiterbaren Bahnhof im Schräglage zu ersetzen. In Stuttgart ging es bei S21 nie um einen besseren Bahnhof, der war nur ein Abfallprodukt für den großen Immobilendeal - aber wenn die Presse nicht kritisch darüber berichtet bekommt es die Masse eben nicht mit und glaubt so einen Stuss wie "Stuttgart wie ohne S21 vom internationalen Fernverkehr abgehängt" und "Wir bauen den besten Bahnhof der Welt" und übernimmt unrecheriert die Meldungen der Bahn wie "Stresstest bestanden", Grubes Drohungen der 1,5 Milliarden Ausstiegskosten und "keine Neubaustrecke ohne S21" - und die Presse schaut zu. Was ist z.B. mit Wikireal - auch das hat die Presse wieder verpennt - ist halt auch komplizierte Materie. Die Mehrheit hat sich nicht für den Bau des Tiefbahnhofs entscheiden wie jetzt alle schreiben, sondern ist den Drohungen der Bahn auf den Leim gegagnen. Gehen Sie doch mal raus und fragen Sie die Leute nach ihrem Wissen zu diesem Projekt und warum sie mit "Nein" gestimmmt haben. Da bekommt man Antworten wie "Der alte Bahnhof ist ja kaputt und wir brauchen einen neuen" oder "Der neue Bahnhof bedeutet Fortschritt weil man jetzt durchfahren kann". Nur - Stuttgart ist ein Start-oder Zielbahnhof. 80 % steigen ein oder aus und nicht um. Alles Fakten - nur keiner schreibt. Auch von der kommenden Klage der Privatbahnen, die einen Abriss der Gleisanlagen auch nach Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages unmöglich machen dürfte kein Wort. Sorry - aber von der TAZ erwarte ich mehr.

     

    Thomas Neuhaus

  • D
    DasPferd

    Also, bei aller Liebe, aber so eine grauselige Kaffeesatzleserei hab ich ja schon lange nicht mehr gelesen. Nicht, dass einige der Punkte und gerade die Analyse des Ergebnisses der Volksabstimmung nicht gelungen wären, aber dann geht es los. Auf welcher Grundlage sehen sie denn ein 6 Parteiensystem? Auf den aktuellen Umfragen? Da hätten wir ein 5 Parteiensystem, denn die FDP wäre raus. Oder auf den Status des jetzigen Bundestags? Da wären wir dann wieder bei 5. Es ist reine Spekulation, wie es bei der Wahl in 2 Jahren aussehen wird. Hypothetisch: Der Medienhype der Piraten ist vorbei, die FDP erholt sich nicht mehr, dann wären wir wieder bei 4.

    Ganz ehrlich, jetzt eine so weitreichende Analyse am Ergebnis einer Volksabstimmung über einen Bahnhof finde ich fehl am Platz.

  • R
    Rad

    Die Grünen haben schwer mit dem Gustav-Gründgens-Syndrom zu kämpfen: nach oben kommen, um zu helfen.

  • K
    KFR

    Vergraulen ? wen denn ?

    alle sind dankbar, weil wie üblich und schon für KKWs Endlager, Entsorgung, Teilnahme an Kriegen, Förderung der Automobilen und Öl-Industrie, Solar bis Banken und cash-in etc etc sich die Partei als zuverlässiger Partner und Scheinveranstaltung bewährt hat; Programmatik und Beschlüsse ? ich bitte Sie !