Debatte Großbritannien: Die Haltlosigkeit von New Labour

Die politischen Unterschiede zwischen den Tories und der Labour Party sind heute verschwindend gering. Solange Großbritannien boomte, hat das niemanden gestört.

Sie reagieren wie aufgescheuchte Hühner. Die britische Labour-Regierung musste bei den Kommunalwahlen in England und Wales am 1. Mai zwar mit Stimmverlusten rechnen, aber das schlechteste Ergebnis seit 40 Jahren hat in der Partei Panik ausgelöst. Nicht einmal der von Premierminister Gordon Brown kaum eines Blickes gewürdigte Ken Livingstone konnte Labour einen Trostpreis verschaffen. Er musste sein Amt als Londoner Bürgermeister an den rechten Tory Boris Johnson abgeben.

Dabei lag die Regierungspartei noch vor zwei Monaten nur knapp hinter den Tories. Was ist geschehen, dass Labour mit 24 Prozent der Stimmen sogar hinter die Liberalen Demokraten auf den dritten Platz fiel? Es ist die Wirtschaft, da sind sich die Analysten einig. Aufgrund der Rezession und der sinkenden Immobilienpreise traut die Nation der Hausbesitzer Brown und seinem Schatzkanzler Alistair Darling nicht mehr. Brown ist auf der Beliebtheitsskala der Parteichefs weit hinter die anderen zurückgefallen, laut einer aktuellen Umfrage des Observer meint nur noch ein Fünftel, dass er seinen Job ordentlich macht. Mehr als die Hälfte aller Labour-Wähler finden, dass Brown Platz machen solle für eine "jüngere, frischere, charismatischere Alternative". Die gibt es aber nicht. Zwei Drittel der Befragten sagen, dass eine Kurskorrektur der Partei helfen könnte. Doch es gibt keine Untersuchung, die belegt, dass solch eine Neuorientierung wahlentscheidend wäre.

Dennoch reagiert Labour auf Umfragen, wonach Verbrechensbekämpfung, Einwanderung, Gesundheits- und Schulwesen auf der Prioritätenliste der Wähler stehen. Keine Nation in Europa hat mehr Angst vor ihren Jugendlichen als die Briten. So verkündete Innenministerin Jacqui Smith vorige Woche ihr Programm "Wir schlagen zurück": Jugendliche, die sich asozial verhalten, sollen ständig von Sozialarbeitern und der Polizei zu Hause aufgesucht und auf der Straße angehalten werden, um ihnen das Leben schwer zu machen, damit sie auf den rechten Weg zurückkehren. Mehr Geld für diesen immensen Aufwand gibt es jedoch nicht, und so ist diese Initiative nichts weiter als eine PR-Übung.

Die Krise hat dafür gesorgt, dass sich die Blair-Anhänger, die seit Browns Krönung im vorigen Sommer - er ist ja nicht gewählt worden - ruhig waren, wieder regen. Blairs früherer Spendenbeschaffer Lord Levy behauptet in seinen Memoiren, Blair zweifle daran, dass Brown die nächsten Wahlen gewinnen könne. Brown wusste außerdem von den kontroversen Adelstiteln im Gegenzug für Parteispenden, schreibt Levy. Es wäre ja auch erstaunlich, wenn der Schatzkanzler ahnungslos gewesen wäre.

Bei der Blair-Riege sind Memoiren zurzeit in Mode. Blairs Frau Cherie hat notiert, dass sie Brown nicht ausstehen kann. John Prescott, Blairs damaliger Stellvertreter, hat in seinen Memoiren enthüllt, dass er Blair mehrmals aufgefordert habe, Brown hinauszuwerfen, doch der Premierminister habe Angst vor seinem Schatzkanzler gehabt. Und Charles Clarke, der unter Blair Innenminister war, verlangte von Brown, er solle endlich mit seinen "Hundepfeifen-Slogans" à la "britische Jobs für britische Arbeiter" aufhören.

Es ist zu einfach, Brown zum Sündenbock zu machen. Als er sein Amt vor zehn Monaten antrat, war er bei der Bevölkerung durchaus beliebt, sah man in ihm doch einen seriösen Kontrast zum Schaumschläger Blair. Die jetzige Krise ist keine Brown-Krise, sondern eine Labour-Krise. Den Grundstein dafür hat Margaret Thatcher gelegt. Sie hat die Gewerkschaften entmachtet, die Rolle des Staats eingedampft, staatliche Unternehmen meistbietend verhökert und Sozialprogramme gekürzt. Ihr neoliberales Gesellschaftsmodell wurde später in viele Länder exportiert, in Großbritannien hat es das Parteiengefüge grundlegend verändert. Die Labour Party war nach den regelmäßigen Wahlschlappen reif für den Rechtsruck, die Blair und Brown ihr verordneten. Als sie nach 18 Jahren Tory-Herrschaft schließlich an die Macht kam, war es eine andere Partei als die alte englische Sozialdemokratie. Sie selbst betonte das und nannte sich fortan "New Labour".

Der Aufstieg dieser vom linken Gedankengut befreiten Partei traf zusammen mit dem Beginn eines langen Wirtschaftsbooms. So hatte Labour nach der Regierungsübernahme 1997 stets genug Geld im Steuersäckel, um ein wenig von Reichen zu Armen umzuverteilen, ohne sich dabei Feinde zu machen, was man Brown zugute halten muss. Er schaffte es, dass der Chefredakteur des reaktionären Boulevardblatts Sun genauso zufrieden war wie der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes. So musste sich Labour nie entscheiden, auf welcher Seite man eigentlich stand.

Dem Ende des Booms im Zuge der Hypothekenkrise hat New Labour nichts entgegenzusetzen, weil die Partei keine Erfahrung mit einer solchen Krise hat. Die Sun ist, zumindest in London, wieder in ihre natürliche Tory-Umgebung zurückgekehrt, und die Gewerkschaften werden unruhig. Es war töricht, in dieser Situation den niedrigsten Einkommensteuersatz von zehn Prozent abzuschaffen. Das entsprang dem Wunsch Browns, der Mittelschicht - deren Steuern er senkte - zu vermitteln, dass sie ihm genauso wie seinem Vorgänger vertrauen könne. Doch die Mittelschicht ist wechselhaft, wie sich bei den Kommunalwahlen zeigte, und ihre alten Stammwähler hat die Partei verprellt. Der "Dritte Weg", wie Blair seinen dynamischen Kapitalismus nannte, ist nicht nur in Großbritannien gescheitert, sondern auch in Italien, Frankreich, Portugal, Dänemark, den Niederlanden und in Deutschland.

Thatcher und Blair haben einen ideologiefreien Raum hinterlassen, in dem die Parteien ihre Programmpunkte wie Weihnachtsgeschenke untereinander austauschen. Labour hat keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Wofür sollen sie die Tories geißeln? Dafür, dass sie den Bildungs- und Gesundheitsbereich weiter privatisieren wollen? Labour hat das selbst getan. Dass sie schärfer gegen Verbrecher vorgehen und noch mehr Leute einsperren wollen? Das ist auch Labour-Politik. Dass sie Unternehmen und die Superreichen begünstigen? Labour tut das ebenfalls. Dass sie beim sozialen Wohnungsbau versagen? Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg sind so wenige Wohnungen gebaut worden wie unter dieser Labour-Regierung. Und Europa? Die Tories sind nicht antieuropäischer als Labour unter Brown. Wahlerfolge hängen nicht mehr von Ideologien ab, sondern vom Geschick der Führungspersönlichkeiten, sich gut zu verkaufen.

Ist es also letztendlich einerlei, welche Partei in Großbritannien regiert? Nicht ganz. George Osborne, der in einer Tory-Regierung Schatzkanzler würde, hat vor der Britischen Handelskammer erklärt, was er anders machen wolle: "Ich finde, die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst sind zu mächtig geworden. Wir würden uns ansehen, welche Veränderungen im Arbeitsrecht notwendig sind." Labour bleibt also, mit großem Vorbehalt, das kleinere Übel.

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Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

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