Debatte Finanzkrise: Alles ist vergiftet
Was zur aktuellen Finanzkrise geführt hat, ist unter den Experten noch immer umstritten. Klar ist nur: Sie führt vor Augen, dass Kapitalismus ohne Staat nicht funktioniert.
Ulrike Herrmann ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz.
Es sieht aus wie ein Massensterben ohne eindeutigen Erreger. Viele Banken sind tot. Aber was genau sie eigentlich niedergestreckt hat, das ist noch immer unklar. An einer Liste der Symptome fehlt es nicht, sie werden immer wieder gern aufgezählt. Das fängt bei den Ramschhypotheken in den USA an, geht über die Finanzmathematik, die äußerst seltsame Wertpapierprodukte ermöglicht hat, und endet irgendwann bei den Steueroasen. Dazwischen kann man noch Hedgefonds, Ratingagenturen, gierige Manager und eine laxe Aufsicht kritisieren. Jede dieser Anormalitäten sollte dringend behandelt werden. Trotzdem ist die Beschreibung der Symptome noch keine Diagnose.
Was also hat die ganze Finanzwelt "vergiftet", wie es die beliebte Metapher von den "toxischen Papieren" nahelegt? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als sich der eigentliche materielle Schaden bisher in Grenzen hält. Offensichtlich hat schon eine Mini-Infektion genügt, um die Märkte weltweit kollabieren zu lassen. So hat der Internationale Währungsfonds in dieser Woche geschätzt, dass durch die Finanzkrise insgesamt rund 1,4 Billionen Dollar abgeschrieben werden müssen. Und selbst der oberste Pessimist der Analystenbranche, der US-Ökonom Nouriel Roubini alias "Mr Doom", rechnet langfristig nur mit rund zwei Billionen. Das klingt nach waaaahnsinnig viel Geld - tatsächlich ist es eher wenig. Ökonomen haben vorgerechnet, dass vergangene Finanzkrisen zu weit größeren Verlusten führten, wenn man die Abschreibungen mit der Wertschöpfung der betroffenen Volkswirtschaften abgleicht. Dann sind die derzeitigen Turbulenzen geradezu billig: Unter den 78 Bankkrisen, die es seit 1970 gab, rangiert der aktuelle Crash weit hinten - irgendwo auf den Plätzen 68 bis 70.
Die Gewerkschaften machen eine ähnliche Rechnung auf. Ihre Kalkulation: Das weltweite Vermögen beträgt, konservativ geschätzt, rund 100 Billionen Dollar. Das macht bei Abschreibungen von 1,4 Billionen ein Minus von 1,4 Prozent. Jeder Abschwung in der Realwirtschaft haut da mehr ins Kontor. Doch diese Rechenexpempel sind kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen. Im Gegenteil. Man darf fassungslos sein. Die eigentliche Frage lautet: Wie kann es sein, dass vergleichsweise geringe Abschreibungen zu einer Finanzkrise führen, die nur noch mit dem Bankenzusammenbruch 1930/31 zu vergleichen ist?
Wer auf eine klare Antwort hofft, wird allerdings enttäuscht. Grob gesagt, stehen sich zwei Theorien gegenüber: Die einen finden, dass vor allem die Regulierung versagt hat - das sind die Stichworte Steueroasen, Ratingagenturen oder Bankenaufsicht. Die zweite Fraktion geht fundamentaler vor und diagnostiziert eine "Geldschwemme", verursacht unter anderem durch die Niedrigzinspolitik der USA, die Petrodollars der Ölscheichs oder auch der weltweite Ausbau der privaten Vorsorge. Wenn zum Beispiel jeder anfängt, für seine Rente zu sparen - wo soll dieses ganze Geld denn angelegt werden, wenn nicht in seltsamen Wertpapieren?
Noch fundamentaler ist die Deutung, dass die jetzige Geldschwemme ein Produkt der weltweiten Ungleichheit zwischen Beschäftigten und Kapitaleignern sei: Die Vermögenden wüssten kaum noch, wohin mit ihrem Geld. Schon deswegen seien sie bereit, exotische Wertpapiervehikel anzusteuern.
Die erste Theorie von der mangelnden Regulierung hat den eindeutigen Vorteil, dass sie optimistisch ist. Man muss nur die Finanzaufsicht stärken oder die Eigenkapitalregeln für Banken verschärfen, schon wird der Kapitalismus seinem Heilsversprechen wieder gerecht. Diese Art Vorschläge sind gerade von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) zu hören, der am Freitag auf dem G-7-Gipfel in Washington ein "8-Punkte-Programm" unterbreiten will.
Die zweite Variante ist viel pessimistischer, denn bekanntlich drehen die Notenbanken den Geldhahn auf, um die jetzige Krise zu überwinden. Für die Geldschwemmen-Theoretiker ist damit der nächste Crash programmiert - zumal ja auch die andere Frage ungelöst bleibt, ob nicht die ungerechte Vermögensverteilung für die weltweiten Verwerfungen sorgt. Damit kein Missverständnis entsteht: Auch die Geldschwemmen-Theoretiker sind für Regulierung. Nur sehen sie eben eine Systemkrise, die allein mit einer verstärkten Finanzaufsicht nicht mehr zu beherrschen ist.
Es ist nicht abzusehen, dass der Fundamentalstreit zwischen Regulierern und Geldschwemmen-Theoretikern demnächst entschieden wird. Doch wenn die Diagnose umstritten ist - was folgt daraus für die Therapie?
Den Verbrauchern und Staatsbürgern bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihren eigenen Augen zu trauen. Manchmal sind es gerade Anekdoten, die erhellen, was eine Lösung sein könnte. So legen hochspekulative Hedgefonds, gern auch "Heuschrecken" genannt, neuerdings in biederen Staatsgeldern an, weil ihnen alles andere zu riskant erscheint. Diese Pointe hätte man gar nicht besser erfinden können: Der Staat als Renditebringer für Hedgefonds. Zugleich geht das Gerücht um, dass Investmentbanker ihr Vermögen bei den Sparkassen parken, weil diese dank der unbegrenzten Institutssicherung als besonders sicher gelten. Wer hätte das je erwartet? Noch vor kurzem haben die Geschäftsbanken behauptet, die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute seien überflüssig. Jetzt kann man die Debatte umdrehen: Wozu werden eigentlich noch private Banken gebraucht, wenn sie in der Krise versagen?
Gleichzeitig wird auch das Renditeversprechen der privaten Institutionen hinfällig. Die Lebensversicherungen bangen schon, ob sie den Garantiezins von 2,75 Prozent künftig halten können. Und die Financial Times Deutschland hat kürzlich - noch vor dem Börsensturz in dieser Woche - errechnet, dass die Aktien weltweit seit 1990 nur eine reale Jahresrendite von weniger als drei Prozent abgeworfen hätten (inklusive Dividenden). Die Pointe: Zehnjährige Bundesanleihen hätten in der gleichen Zeit 4,5 Prozent gebracht.
All diese Details verweisen auf eine fundamentale Wahrheit: Der Kapitalismus kann ohne Staat nicht funktionieren. Er schafft Vertrauen und sichert die Renditen ab. Sollte sich diese Erkenntnis in der Bevölkerung durchsetzen, dann wäre dies nichts weniger als ein Paradigmenwechsel. Bisher hatten viele den Eindruck, es wäre besonders schlau, jenseits der Gesellschaft nach eigenen Privatlösungen zu suchen. Die Namen dafür waren vielfältig: von der Lebensversicherung über Immobilien und Aktien bis zur privaten Riester-Rente. Ein Volk von 82 Millionen Bürgern dachte, dass jeder Einzelne auf einer virtuellen Insel residieren kann, die aus abstrakten Ansprüchen auf irgendwelche Geldauszahlungen besteht.
Nun zeigt sich, dass es eine Flucht vor der Gemeinschaft nicht gibt. Die Wertegemeinschaft schafft tatsächlich Werte - und zwar nicht nur ideell, sondern auch materiell. Wenn sich dieser Gedanke durchsetzen sollte, dann hätte die Krise auch etwas Gutes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Zwei Tote und zwei Verletzte
Entsetzen nach Messerattacke auf Kinder in Aschaffenburg
Gegenwehr gegen Donald Trump
Eine neue Antifa-Heldin
Syrer*innen in Deutschland
Kein Grund zu gehen
Friedensbewegung heute
Gespalten und orientierungslos
Angriff auf Kinder in Aschaffenburg
Merz und Söder fordern Grenzschließung für alle Flüchtlinge
Kommunikationswissenschaftler
„Fake News muss man schon glauben wollen“