Debatte Die Grünen: Arm, aber flexibel
Die Grünen befassen sich nicht mit den Ursachen von Armut und Prekarisierung. Sonst hätten sie sich auf dem Parteitag endlich von der rot-grünen Agenda 2010 verabschiedet.
F ür den grünen "Neuaufbruch" in der Sozialpolitik war der Parteitag in Nürnberg ein erster Schritt. Die Grünen werden sich aber nicht die Debatte ersparen können, weshalb die Marktwirtschaft hierzulande immer mehr Armut hervorbringt. Und welchen Beitrag dazu sie selbst in den Zeiten der Agenda 2010 geleistet haben.
Wilhelm Achelpöhler ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er gehört den Grünen seit 1980 an und ist Sprecher des Kreisverbandes Münster. Sich selbst bezeichnet er als "Ökosozialist"; die Realos nennen ihn gern "Nadelstreifen-Kommunist".
Wer die grüne Debatte über den Umgang mit den Armen und ihrer Armut verfolgt, findet eine seltsame Leerstelle: Die Ursachen der Armut sind kein Thema. Dies gilt sowohl für die Seite der "bedarfsorientierten Grundsicherung" als auch des "bedingungslosen Grundeinkommens". Wo beide Seiten die Gründe der Armut vermuten, kann man aus ihren Therapievorschlägen schließen. Danach ist Armut nicht nur ein Mangel an Geld. Strukturelle Änderungen müssen her: mehr Bildung und eine Schule für alle; mehr Gesundheitsprävention, schon wegen der vielen dicken Kinder; eine Senkung der Lohnnebenkosten, gerade bei niedrigen Einkommen, und eine Verbesserung der Kinderbetreuung wegen des Armutsrisikos Kind. Aber ist das wirklich alles? "Zu dumm, zu krank, zu teuer und zu unflexibel" - wer sich auf der Suche nach den Ursachen von Armut damit begnügt, der individualisiert die Ursachen der Armut. Der sucht den Grund für die Armut bei den Armen.
Früher sah man in der Lohnarbeit oder dem Umstand, auf sie angewiesen zu sein, ein Armutsrisiko allererster Güte. Das war in den Zeiten, als Kapitalismuskritik selbst in der SPD noch populär war, also im vorletzten Jahrhundert. Es folgte die sozialstaatliche Einhegung des Lohnarbeitsverhältnisses, die in den Jahrzehnten nach 1945 ihren Höhepunkt erlebte. Diese Zeit kommt an ihr Ende mit der Prekarisierung der Lohnarbeit, mit der Ausbreitung unsicherer, unsteter Beschäftigungsverhältnisse.
Für manche hochqualifizierten Freiberufler mag eine "Flexibilisierung" kein Problem sein, die Prekarisierung der Erwerbsarbeit ist heute gleichwohl eine der wesentlichen Armutsursachen. Ein deutliches Zeichen der Prekarisierung ist die drastische Zunahme der Leiharbeit. Der heutige Aufschwung der Beschäftigung ist ein Aufschwung der Leiharbeit. Der "Bundesverband Zeitarbeit" kann die 30-prozentigen Wachstumsraten seiner Branche bejubeln, jeder vierte neue Job ist heute ein Job als Leiharbeiter. Das ist auch ein "Verdienst" von Rot-Grün. Ein Verdienst, über den man beim Parteitag in Nürnberg lieber nicht geredet hat. Dabei war Leiharbeit einst verpönt, Grüne und SPD wollten sie sogar gesetzlich verbieten.
Mit der Agenda 2010 hat Rot-Grün die Leiharbeit hoffähig gemacht. Der Staat selbst sollte zum Leiharbeitgeber werden, mit den gescheiterten "Personal-Service-Agenturen", als das Arbeitsamt die Arbeitslosen als Leiharbeiter in die Betriebe schicken sollte. Gleichzeitig wurde Leiharbeit für Unternehmer deutlich erleichtert. Rot-Grün hob mit den "Hartz-Gesetzen" die Vorgabe auf, wonach Zeitarbeiter nur maximal zwei Jahre an einen Betrieb ausgeliehen werden durften. Leiharbeit ist heute unbefristet möglich. Das Nebeneinander von "regulär Beschäftigten" und "prekären Leiharbeitern" in den Betrieben wird zur Normalität. Wenn heute manche Betriebe einen Teil ihrer Beschäftigten an eigens gegründete Leiharbeitsfirmen ausgliedern, dann steht das weniger für den Übergang zu einer "wissensbasierten Industriegesellschaft" als vielmehr für eine Verbilligung des Faktors Arbeit.
Ein Tarifwettlauf nach unten zwischen DGB und "christlichen Gewerkschaften" führte dazu, dass das Prinzip gleicher Bezahlung faktisch nicht gilt. Leiharbeiter senken so das Lohnniveau und disziplinieren die Stammbelegschaften. In manchen Betrieben tragen sie deshalb auch unterschiedliche Arbeitskleidung, blaue Kittel für die Stammbeschäftigten, orange für die Leiharbeiter. So gerät auch die Stammbelegschaft unter "Prekarisierungsdruck".
Auch andere Formen prekärer Beschäftigung, wie befristete Arbeitsverhältnisse oder Mini- und Midi-Jobs, wurden durch Rot-Grün tatkräftig gefördert. Befristete Verträge sind heute weitgehend Alltag beim Berufseinstieg. Aus der "Generation Praktikum" wird die "Generation Zeitvertrag". Das gilt insbesondere bei hochqualifizierten Arbeitnehmern: Nur rund ein Drittel der Hochschulabsolventen hat 2005 noch einen unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen. Gleichzeitig wurde der Kündigungsschutz abgebaut.
Eines der Resultate: Das Lohnniveau sinkt hierzulande deutlich. Vor zwei Monaten teilte das Statistische Bundesamt mit, der durchschnittliche Nettorealverdienst von Arbeitnehmern habe im Jahr 2006 etwa auf dem Niveau von 1986 und unter dem des Jahres 1978 gelegen. Das war nicht das Ergebnis von naturgesetzlichen Entwicklungen, sondern von einer staatlichen Politik, die auf die Verbilligung des Faktors Arbeit in der Standortkonkurrenz Deutschlands zielte.
Diese Prekarisierung der Erwerbsarbeit ist erklärtes Ziel einer Politik der "Flexicurity", die auf eine Deregulierung des Arbeitsmarktes zielt, abgefedert durch eine sozialstaatliche Armutsverwaltung. Armut wird damit zum allgemeinen Lebensrisiko und dieses Risiko zum Normalzustand der Gesellschaft erklärt. Die Lohnarbeit selbst wird wieder unsicher und damit prekär. Kurz: Würden die grünen Pläne Wirklichkeit, hätte allein in Baden-Württemberg jeder zweite Vier-Personen-Arbeitnehmer-Haushalt Anspruch auf Grundsicherungsleistungen.
Dazu passt, welche bemerkenswerte Note die Debatte um den Mindestlohn bekommen hat: Im Vordergrund steht nicht mehr der Schutz des Beschäftigten vor ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, sondern der Schutz der Arbeitgeber vor Billigkonkurrenz. Im Baugewerbe geht es um den Schutz deutscher Unternehmen vor billiger ausländischer Konkurrenz, bei der Briefzustellung um den Schutz der Post vor der Billigkonkurrenz der Zeitungsunternehmen und so weiter. Folglich sollen Mindestlöhne nicht einheitlich sein, weil ihr Maß nicht der Lebensbedarf der Beschäftigten ist, sondern regional und branchenbezogen, denn ihr Maß ist die Konkurrenzsituation der Unternehmen.
Zeitgleich zu der grünen Diskussion will die Europäische Kommission ihr "Flexicurity"-Konzept voranbringen - zur weiteren Deregulierung der Arbeitsverhältnisse in Europa. Im Sinne der Stärkung Europas in der weltweiten Standortkonkurrenz. Die Debatte wird derzeit im Europaparlament geführt; hierzulande ist sie kaum Thema.
Eine Debatte, die diese Änderungen der Arbeitswelt ausblendet, greift zu kurz. Ohne den Blick auf diese Ursachen der Armut bleibt der Abschied von der Politik der Agenda 2010 unvollendet. Die Armut, der Grundsicherung und Grundeinkommen begegnen wollen, ist ein Resultat "der Marktwirtschaft". Die Frage ist: Will man die Armut verwalten oder die Armut bekämpfen? Für Letzteres würde etwas mehr Kapitalismuskritik der Debatte ganz guttun.
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