Debatte Das Schlagloch: Von Mensch zu Mensch
In der Betrachtung eines Kellers in Amstetten zeigt sich die neue Sicht der Welt.
Die Naturwissenschaftler machen wieder Weltbilder. Und Menschenbilder. Lange waren sie da etwas zurückhaltend, der Biologismus des 19. Jahrhunderts hatte zu mörderische Spuren im 20. hinterlassen. Und nicht nur die Frankfurter Schule sorgte nach dem Krieg dafür, dass die Soziologie zur Universalerklärerin wurde. Und die Psychologie zu ihrer Assistentin. Aufklärerischer Grundsatz und Glaubenssatz in einem: Monster werden nicht geboren, Monster werden gemacht. Vornehmlich von der Gesellschaft. Hannah Arendts Satz von der Banalität des Bösen ist noch heute in jedermanns Bewusstsein.
Wie aber hat die Gesellschaft es fertiggebracht, sagen wir, einen Josef Fritzl zu machen? Sollte er eine schwere Kindheit gehabt haben? - Ja, die Soziologen sind zurzeit argumentativ leicht entmächtigt, auch weil der Typus des Trivialsoziologen längst das letzte Büro und die letzte Kneipe erobert hat. Nun kommt der Knick. Der durchschnittliche Zeitgenosse von heute mag im Unterschied zu seinen 68er-Vorfahren keine großen Selbstreflexionsdebatten mehr führen, er will auch nicht denken, er will wissen. Darin besteht die natürliche Allianz des Gegenwartsmenschen und der Naturwissenschaften vom Menschen.
Der Fall Josef Fritzl provozierte die Interpretatoren aus dem 100-Prozent-Natur-Lager zu bemerkenswerten Erklärungen, wenn auch die Soziologiefraktion einen kleinen Auftritt wagte und die spezifische kulturelle Verfassung Niederösterreichs unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Geschichte nicht unerwähnt ließ. Für alle, die zu lange in Soziologieseminaren zugebracht haben oder einfach nur ihr Hirn entrümpeln müssen, sei hier der große Niederösterreich-Kenner Josef Hader empfohlen. Leider schreiben Experten wie er noch nicht die Kommentare in unseren großen Tageszeitungen.
Dort war etwa - aus der 100-Prozent-Bio-Ecke - zu lesen, dass Josef Fritzls Verbrechen Teil der menschlichen, und zwar speziell: männlichen, Natur sind und als solche keineswegs ungewöhnlich. Da hat sich eine ganze Generation abgemüht nachzuweisen, dass keineswegs jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger ist, und nun schreiben diese Neu-Biologen einfach: Humbug! Und addieren die Verbrechen des Josef Fritzl zu einer Superlogik der Gene. Denn wozu sind, rein genetisch betrachtet, der Mensch wie das kleinste Wiesenblümchen auf der Welt? Zur Erhaltung seiner Art, zur Weitergabe seiner Gene. Insofern müsse Fritzl gewissermaßen als besonders erfolgreiches Exemplar des Homo sapiens gelten, auch weil er es verstanden hat, sich tendenziell selbst zu klonen und den größten genetischen Albtraum des Mannes - unwissentlich fremde Kinder großzuziehen - effektiv auszuschalten. Das ist zweifelsohne eine viel umwerfendere Aussage als: Josef Fritzl ist Niederösterreicher! - ? Andererseits sind Argumentationen wie diese eine Beispiel dafür, wie sehr das Wissen den Menschen verdummt. Die Tragik des modernen Mitteleuropäers besteht nicht zuletzt darin, dass wir ganz sicher klüger wären, wenn wir weniger wüssten.
Die Hirnforscher und Neurobiologen denken den Menschen weniger vom Unterleib, sondern mehr von oben her. Neurobiologen sind bereits durch Aussagen aufgefallen wie die, dass Hitler oder Stalin nichts konnten für ihre Taten, denn sie waren Getriebene. Ja, das sind Forscher und Künstler oft auch, der schöpferische Typus Mensch überhaupt. Und, da wir schon dabei sind: Dieser Josef Fritzl, den ein früherer Arbeitgeber als "grenzgenial" bezeichnet hat, gehört wohl auch dazu. Eine so perfekt abgeschirmte Unterwelt zu schaffen, ein Konzentrationslager für die eigene Familie, dazu bedurfte es des Außergewöhnlichen. Natürlich wird man künftig die Tüftler, die ihre ganze Leidenschaft ins Heimhobbyhandwerk investieren, mit anderen Augen sehen. Wie gern würden alle Neurobiologen den Mann in den Hirnscanner schieben. Aber was würden sie finden? Wahrscheinlich nichts. Selbst dass bei technisch Hochbegabten nicht selten eine gewisse Inaktivität oder gar Unterentwicklung des emotionalen Bereichs anzutreffen ist, wissen wir längst. Es bleibt dabei, die Möglichkeit des Monströsen liegt dem Bereich des "Normalen" nicht einmal fern, ist nicht das "ganz andere". Er nennts Vernunft und nutzts allein, noch tierischer als jedes Tier zu sein, steht im "Faust I", dem Jubiläumsbuch dieses Jahres. Das ist das Risiko. Die Möglichkeit der unendlichen Unterbietung des Menschen durch den Menschen.
Die neuen Biologen mögen den Begriff "Schuld" nicht, weil es ihn in der Natur auch nicht gibt. Die Annahme des freien Willens mögen sie auch nicht, oder hat schon mal jemand ein Kaninchen mit einem freien Willen gesehen? Man ist krank, aber nicht schuld, und das souveräne Ich eine Illusion. Es ist immer fragwürdig, wenn Spezialisten Weltbilder machen. Und Menschenbilder.
Die Frage, die Hitler, Stalin wie auch Fritzl wohl mit "Ja" beantworten müssten, ist, ob sie gewusst haben, was sie tun. Und sie haben es trotzdem gewollt. Wenn man die Naivität beiseite lässt, den Sitz des Bösen mit dem Hirnscanner suchen zu wollen, dann ist dieses "Trotzdem" wohl der Ort des Bösen. Keine Substanz, schon gar kein Erbteil negativer Mächte, keine höhere Kraft. Einfach nur die dunkle Seite unseres Menschseins. Und das heißt: unseres Frei-Seins. Wir reden fast täglich über Freiheit, nur manchmal fehlt das Wort auffällig. Zum Beispiel im Amstetten-Umfeld. Denn wir halten die Freiheit für ein schönes Wort, ein Luxuswort gar, ein Wohlbefindlichkeits- und Leistungswort und nehmen nicht wahr, dass es eigentlich das Wort für ein Ausgesetztsein ist, für ein Hochrisiko-Unternehmen. Wer den freien Willen streichen will, streicht die Conditio humana selbst.
Die Lieblingsfeinde der Biologen waren traditionell die Theologen, aber es kann nie schaden, ein bisschen Theologe zu sein, Gotteskundler also. Man muss darum nicht gleich an Gott glauben, an den Teufel schon gar nicht. Aber die spezifische Weisheit der alten Denkformen sollte man schon verstehen. Etwa die vom Sündenfall. Der Sündenfall beschreibt nichts anderes als das Hinaustreten in den spezifisch menschlichen Zustand. Nicht mehr gehalten zu sein in einer Mitte, und sei es die Mitte der Unwissenheit. Nicht mehr nur Geschöpf sein, sondern von nun ab selber Schöpfer. Sicut deus, wie Gott. Ist das ein Fall? Das hängt vom Standort des Betrachters ab, auf jeden Fall ist es ein Unternehmen mit offenem Ausgang. Skeptiker haben schon immer vermutet, der Mensch sei ein Irrtum der Natur. Das Tier, das wie Gott sein will. Allmacht spüren also. Gibt es eine stärkere Droge, eine größere Bestätigung der eigenen Existenz? Normalerweise sind die kleinen Machträusche und Selbstgenüsse gut ausbalanciert, treffen auf viele Gegenkräfte, nicht zuletzt unsere Empathiefähigkeit.
In Fritzls Fall waren es gleich mehrere durch nichts ausbalancierte, sich gegenseitig steigernde Allmächtigkeiten … Aber wollen wir das wirklich wissen? Die großen Diktatoren und Menschenverächter - als Mensch interessieren sie nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann