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DaumenkinoFreistatt

Wenn sich jemand versteckt, müssen die anderen ostentativ weggucken

„Alles, was an Fiktion möglich ist, muss unmittelbar zurückführbar sein auf einen journalistischen Diskurs“, hat Robert Bramkamp unlängst über den deutschen Film gesagt. „Freistatt“ von Marc Brummund ist damit präzise beschrieben – es handelt sich um den Film zur Heimkinder-Debatte, also Schwarze Pädagogik, sexueller Missbrauch, Wirtschaftswunderwestdeutschland und so.

Die Handlung hält sich für plausibel, wenn sie sich grob an diesen Stichwörtern orientiert. Wolfgang (Louis Hoffmann) pflegt ein inszestuöses Verhältnis zur Mutter (Katharina Lorenz), kein so gutes zum Stiefvater (Uwe Bohm) und kommt deshalb in die titelgebende Diakonie. Dort gibt es einen Sklavenhalter-Pferd reitenden Chef (Alexander Held) und zwei Erzieher. Der eine ist sadistisch, also böse (Stephan Grossmann), der andere ist nett, also gut (Max Riemelt), stellt sich aber an Weihnachten als der mit dem sexuellen Missbrauch heraus.

Ansonsten spielt die Geschichte (Nicole Armbruster mit Brummund) munter Konfliktdomino. Immer kann ein neuer Ärger angelegt werden: Wolfgang fragt die sexuell auch irgendwie aufgeladene Tochter vom Chef (Anna Bullard), ob sie einen Brief an seine Mutter einwerfen könne. Bei der Aushandlung der Gegenleistung (Brust anfassen) werden beide vom Chef/Vater ertappt, der zur Strafe das Abendbrot für die Gruppe streicht. Also düst Wolfgang in den Privatgarten vom Chef, um Tomaten zu klauen. Wird wieder ertappt. Zurück im Haus, hat der Chef mittlerweile den Brief gefunden.

So geht das die ganze Zeit. „Freistatt“ ist ein 1-A-Ertappfilm, bei dem alle immer da sind, wenn man sie braucht. Das „horizontale Erzählen“ kriegt hier neuen Sinn – der Film ist flach wie die Moorlandschaft, in der er spielt. Er hat weder Gefühl für den Raum (wenn sich jemand versteckt, müssen die anderen ostentativ weggucken) noch für die Zeit (die 100.000-Watt-Batterie strahlt auch abends zum Fenster rein), weshalb die Klavier-Violinen-Ellipsen-Musik (Anna Nikitin) und der Filterschnickschnack (Kamera: Judith Kaufmann) ihn aufdonnern müssen wie eine Bordsteinschwalbe, wie man seinerzeit gesagt hätte; seinerzeitige Sprüche („Deine Zahnbürste greif gleich ins Leere“) machen übrigens die eine Hälfte der Dialoge aus, der Rest wird aus dem Standardstehsatz des deutschen Films bestritten („Was ist los mit dir?“).

Wie immer, wenn im deutschen Film gegen geschichtliche Komplexe vorgegangen wird (DDR, NS-Zeit), sind die Akteure so mutig wie Nelson Mandela, Rosa Parks und Sophie Scholl zusammen. Größtes Rätsel allerdings: Warum „Freitstatt“ 2013 den Deutschen Drehbuchpreis gewann, wo doch Kulturstaatsminister Neumann schon seinerzeit wusste: „Ein gutes Drehbuch ist von entscheidender Bedeutung für das Entstehen attraktiver Filme.“ Matthias Dell

„Freistatt“, Regie: Marc Brummund, mit Alexander Held, Stephan Grossmann u.a., Deutschland 2014, 108 Min.

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