■ Daumenkino: Charlie & Louise
Es gab wenige Bücher, die ich als Kind nachts unter der Bettdecke gelesen habe. „Das doppelte Lottchen“ war eines davon. Selbst in einer recht intakten Kleinfamilie beheimatet, faszinierte mich die gespaltene Welt dieser Zwillinge – und natürlich, daß es gut ausging. Fortan verfluchte ich meine Schwester, die mir partout nicht ähnlich sehen wollte, und meine Eltern, die sich offenbar irreversibel gut verstanden.
Später befreite ich mich lektüremäßig von der Bettdecke, wechselte in andere Erkenntniswelten und ließ mich davon überzeugen, daß gerade meine intakte Kleinfamilie der Anfang allen Übels sei. Nun sah ich mein eigenes Schicksal mit anderen Augen. Mit kritischen eben.
Auch das ist nun schon ein Weilchen her, und ich hätte auch alles längst vergessen, wäre nicht Günter Rohrbach auf die Idee verfallen, das „Doppelte Lottchen“ zu verfilmen. So aber fand ich mich neulich plötzlich im Kino wieder, eineinhalb Stunden angerührt im Dunkeln grinsend, unabänderlich hineingerutscht in die Teenie-Geschichte von „Charlie & Louise“, die sich so erstaunlich ähnlich sehen und trotzdem so verschieden sind. Ja, ich bekenne: Ich bin dem Charme dieser Zwillinge erlegen, die – wenn sie sich in vierzig Jahren Teenie-Kultur outfitmäßig etwas von Kästner entfernt haben – immer noch mit allen Mitteln für die intakte Kleinfamilie kämpfen, für ein kinderwürdiges Leben nach der Scheidung, die Versöhnung der Liebenden – für Kästners Moral eben.
Die Twins Fritzi und Flori Eichhorn berlinern sich profitabel durch 90 Minuten Kästner-Remake, stets kongenial begleitet von ihren Filmeltern Heiner Lauterbach und Corinna Harfouch und einem gut getimten hinreichend komischen, angemessen rührseligen Plot, den Joseph Vilsmaier eins zu eins in Bilder umgesetzt hat. Und so zittert man tatsächlich um die Versöhnung des ungleichen Elternpaares und freut sich schließlich sogar über das abrupt einsetzende Happy-End. Erst später in der U- Bahn fiel mir die Sache mit der Kleinfamilie und dem Unglück des privaten Glücks wieder ein, und ich beschloß, noch in der gleichen Nacht kritisch bei Kästner gegenzulesen. Unter der Bettdecke. Damit der Rest der Familie nicht gestört wird.klab
Joseph Vilsmaier: „Charlie & Louise“, BRD 1994
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