■ Daumenkino: Before Sunrise
Fremd muß Europa auf den amerikanischen Jugendpop- Regisseur Richard Linklater gewirkt haben. Erst läßt er mir nix, dir nix ein Midlife- Ehepaar in Schmäh und Jähzorn ausbrechen. Später kauern Beatpoeten auf Booten in der Donau und schreiben Stand-up-Gedichte. Im Grunde tut das menschliche Drumherum auch nichts zur Sache: Linklater wollte einen ebenso unbefangenen wie tief intimen Film über das zart keimende Verlangen zwischen einem amerikanischen Collegeknaben und der entsprechend französischen Literaturstudentin auf dem Euro-Rail-Wege drehen. So eine Art Grunge-, Slacker- und Schlappness- Version der „Nacht bei Maud“, in der Eric Rohmer den seinerzeit noch beißfrischen und genußfähigen Jean-Louis Trintignant mit Marie-Christine Barrault durchbrennen ließ, lange Pausen und angemessene Blicke inklusive. Doch Linklaters Jugend hat keinen Unsinn mehr im Kopf, der ihr ein wenig aufs einstudierte Ich scheinen könnte. Die Liebe entspricht dem Ermäßigungstarif, für den man durch die Lande reist. Wie Julie Delpy über ihre perfekt hingetanzte Rolle eines französischen Elfleins namens Celine gesagt hat: „Ich bin im Grunde nicht der Typ für solche Spontaneitäten.“
Statt aber als Unschuld in Kieslowski-Licht getaucht der Dinge zu harren, die da in Form von Ethan Hawke auf sie zukommen, muß Delpy über ihre Großmutter und schwache Frauen reden, als hätte ihr eigen Mütterlein nicht 68, sondern im Biedermeier gelebt. Irgendwann behauptet sie naßforsch, der Feminismus sei eine Erfindung des Mannes, um sich die Frau erst richtig gefügig zu machen. Das erinnert an Steffen Heitmann, soll hier aber nur Grundehrliches andeuten, das junge Menschen halt so sagen, wenn sie sich bloß eine Nacht miteinander rumschlagen müssen. Der Amerikaner hält Identitätsprobleme dagegen. Er sorgt sich um Seelenteilung: Am Anfang der Steinzeit gab es eine Million Menschen auf der Erde, jetzt sind es über fünf Milliarden. Wenn sich etwas aufs Weltalter umgerechnet dermaßen schnell und massenhaft vermehrt, muß da nicht die Seele leiden? Dumme- Jungs-Gedanken, für die bei Rohmer die Menschen verlassen worden wären, hätte sie nicht Pauline schon vorher am Strand vergraben. Hier endet das Ganze jedoch übereinander auf der Wiese unter freiem Himmel, kurz vor Sonnenaufgang. Und am Morgen trägt Delpy kein T- Shirt mehr unter ihrem Ballerinen-Leibchen. Bei aller Chill-out-Psychologie, dem unaufgeregten Austausch von Meinungen und Körperflüssigkeiten, hat Linklater auch das sonst sehr kauzige Wien – der Cartoonist Tex Rubinowitz tritt in einer kurzen Kaffeehausliteraten-Parodie auf – mehr als Pauschalreise-Ratgeber gefilmt. Danach sind sie dann alle wieder zurück nach Amerika geflogen. hf
Before Sunrise, USA 1995
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