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Dass eine Schülerin aus Osnabrück einen Nikab trägt, finde ich nicht gut. Aber wenn ich die Kommentare im Netz dazu lese, wird mir einfach nur schlechtDer Mob hasst sie

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Vor Kurzem sah ich im Schuhladen eine Frau in einer echten Burka. Sie war mit einer unverschleierten, geschminkten Frau beim Schuhekaufen. Ich war nicht die Einzige im Laden, die einen verstohlenen Blick auf sie warf, und ich muss sagen, es hat mich echt gegruselt. Die Frau, und es hätte ja auch ein Mann sein können, sah kaum aus wie ein Mensch, mehr wie ein Gespenst. Aber offensichtlich war sie ein Mensch, ein Mensch, der sich Damenschuhe kaufte.

Offensichtlich hatte sie eine Freundin, die es vorzog, sichtbar zu sein – und dazu noch attraktiv. Offensichtlich konnten sie Spaß zusammen haben. Mich hat die Situation noch länger beschäftigt, vor allem der Grusel, den ich empfand, ich fühlte mich der Person gegenüber im Nachteil, weil ich nicht mal ihre Augen sehen konnte, sie dagegen konnte meine Kleidung sehen, meine Haare, meinen Gesichtsausdruck. Sie hätte sich mich einprägen können und mich wiedererkennen, ich hätte das nicht.

Mit Kleidung, Frisur, Mimik drücken wir uns aus, wir informieren über uns. Eine Frau, die sich vollverschleiert, verweigert jegliche Information. Eine Welt, in der alle Frauen auf diese Weise verschleiert wären, wäre eine Geisterwelt.

Heute beobachtete ich, wie ein paar ältere Frauen am Kosmetikstand miteinander ins Gespräch kamen. Es ging um Pflege für die reife Haut, es ging dann weiter um das Alter an sich, und dann fingen sie an, Witze zu machen. Wäre solche spontane Nähe möglich gewesen, wenn die Frauen sich gar nicht hätten sehen können?

Aber andererseits: Sollte es dann Blinden nicht möglich sein, Kontakt aufzunehmen? Kann man Informationen über Alter, Geschlecht und Stimmung nicht auch dem Verhalten, der Stimme, dem Gesprochenen entnehmen?

Ich nehme allerdings an, dass dieselbe Haltung, die der Frau die Vollverschleierung vorgibt, ebenso die Zurückhaltung empfiehlt. Wenn eine Frau sich öffentlich nicht mit ihrem Antlitz zeigen will/soll, dann wird sie dies sicherlich auch nicht auf andere Weise wollen/sollen. Und ich denke, hier liegt der Punkt.

Wenn ein sechzehnjähriges Mädchen aktiv am Unterricht teilnimmt, wird ihr dies nicht möglich sein, ohne Persönlichkeit zu zeigen. Und Lernen ist wichtig für die Ausbildung der Persönlichkeit. Wenn also ein sechzehnjähriges Mädchen in einem Nikab die Schule besucht, aktiv, weil sie sich meldet und ihre Stimme, ihren Intellekt benutzt, dann ist sie kein Geist, weil sie zum einen den wichtigsten Teil des Gesichts zeigt, nämlich ihre Augen, und zum anderen zeigt sie wenigstens einen Teil ihrer Persönlichkeit, in dem sie aktiv am Unterricht teilnimmt.

Ich denke schon, dass diese feinen Unterschiede wichtig sind. Ich finde es nicht gut, dass sechzehnjährige Mädchen glauben, einen Nikab tragen zu müssen. Ich sähe diesen Mädchen lieber ins Gesicht, ich wünschte, sie würden frei aufwachsen, lieben, leben können. Aber wenn ich die Kommentare zu diesem Thema lese, dann wird mir schlecht.

Der Mob würde liebend gern diesem Kind die Kleider vom Leibe reißen. Der Mob möchte dieses Mädchen demütigen, der Mob, der es gar nicht kennt, hasst es. Die, die sie kennen, hassen sie nicht. Die Schule in Belm, im Landkreis Osnabrück, toleriert die Verschleierung, man will sie nicht zwingen, die Verschleierung abzulegen.

Ich bin ein Feind jeder Religion. Ich halte sie für ein Übel. Ich halte auch keinesfalls eine für besser als die andere. Aber wenn wir es verurteilen, dass die Religion ein sechzehnjähriges Mädchen zwingt, sich zu verschleiern, wie können wir es dann gutheißen, dass wir selbst ein sechzehnjähriges Mädchen zwingen wollen, den Schleier abzulegen, alles beides mit demselben Argument, es sei, letztendlich, zu ihrem Besten?

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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