: „Das war keine Erfolgsgeschichte“
Auch wenn Winfried Kretschmann selbst vom Radikalenerlass betroffen war, äußerte er sich nie zu einer Rehabilitierung der Opfer. In einem Interview, das jüngst für eine TV-Doku geführt wurde, ändert sich das – und der Ministerpräsident schließt Entschuldigungen bei Betroffenen nicht mehr aus.
Von Hermann G. Abmayr (Interview) und Oliver Stenzel↓
Politische Positionen ändern sich in der Regel nicht abrupt um 180 Grad, zumindest würde eine solche Änderung selten so deutlich artikuliert werden. Insofern könnte man es durchaus als bemerkenswerten Wandel deuten, wenn Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in einem Interview den vor bald 50 Jahren, am 18. Februar 1972, in Kraft getretenen Radikalenerlass jetzt als „keine Erfolgsgeschichte“ bezeichnet – und Entschuldigungen bei denen, die von ihm betroffen waren und zum Beispiel ihren angestrebten Beruf nicht ausüben konnten, nicht ausschließt. Das hört sich zwar zunächst nicht nach einer allzu dramatischen Kehrtwende an. Doch man muss es im Zusammenhang früherer Äußerungen Kretschmanns betrachten.
Der Journalist Hermann G. Abmayr, vor allem in den Anfangsjahren auch häufiger Kontext-Autor, hat mit Kretschmann für eine TV-Dokumentation des Saarländischen Rundfunks über den Radikalenerlass gesprochen, Titel: „Jagd auf Verfassungsfeinde“. Mit dem Erlass und dem Umgang Kretschmanns damit beschäftigt sich Abmayr schon lange, etwa vor rund zehn Jahren in seinem im Mai 2012 erschienenen Kontext-Artikel „Herrn K.s Gespenst“, in dem er die Enttäuschung von Berufsverbotsopfern über den MP beschreibt. Weil Kretschmann in den späten 1970ern als Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) selber vom Berufsverbot betroffen war, hatten kurz nach der Regierungsübernahme von Grün-Rot viele Betroffene ihre Hoffnungen daran gesetzt, dass sich der Grüne nun für eine Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer einsetzt, eine Forderung, die etwa die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vertritt. Stattdessen erlebten sie, wie Abmayr schreibt, gleich zweimal einen Schock: Kretschmann rechtfertigt implizit zumindest teilweise die Berufsverbote („Dass wir jetzt nicht Kommunisten in den Staatsdienst lassen, daran hat sich sicher nichts geändert“), grämt sich vor allem über den eigenen Fehler, gläubiger Parteikommunist gewesen zu sein, und der Frage nach einer Rehabilitierung weicht er mit dem Satz aus: „Das muss man im Einzelfall prüfen.“
Die Unterschiede dazu mögen in seinen jetzigen Interview-Äußerungen auf den ersten Blick subtil erscheinen, eine vage Hoffnung mögen sie dennoch nähren: dass sich der Ministerpräsident nun verstärkt für eine auch politische Aufarbeitung der staatlichen Gesinnungsschnüffelei einsetzt. Denn eine wissenschaftliche Aufarbeitung wird bald vorliegen: Im Frühjahr will eine 2018 dafür eingerichtete Forschungsstelle der Universität Heidelberg eine Studie zum Radikalenerlass vorstellen.
Abmayrs TV-Dokumentation wird schon am 17. Januar in der ARD zu sehen sein. Aus dem Interview, das er mit Kretschmann dafür führte, sind nur wenige Passagen zitiert. Die ARD hat das Manuskript interessierten Medien zur Verfügung gestellt, bislang wurden allerdings nur einzelne kurze Zitate daraus veröffentlicht. Weil das Gespräch interessante Einblicke in den Umgang Kretschmanns mit dem Thema ermöglicht, veröffentlicht Kontext hier eine nur leicht gekürzte Fassung (das komplette, ungekürzte Interview auf kontextwochenzeitung.de).
Herr Kretschmann, Sie wurden in den 1970er-Jahren im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass wegen ihrer linken Aktivitäten mehrmals zum Oberschulamt in Stuttgart zitiert. Grund war die sogenannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Wie sehen Sie das heute?
Man muss das im Horizont der Zeit sehen und nicht generell kritisieren, was da passiert ist. Aber die Regelanfrage beim Verfassungsschutz, die viele tausend Menschen betroffen hat, das waren sicher Auswüchse der damaligen Zeit. In einem freiheitlichen Rechtsstaat schaut man auf den Einzelfall und stellt nicht alle unter Kollektivverdacht, um so mit dem Rasenmäher drüber zu gehen. Klar, wer in den Staatsdienst will, muss aktiv für die freiheitlich demokratische Grundordnung eintreten. Aber die Regelabfrage ist das falsche Instrument. Erst mal geht der freiheitliche Staat von der Verfassungstreue seiner Bürger aus. Sonst müsste er zum Schluss jeden überprüfen. Nur wenn belastbar Gegenteiliges vorliegt, dann muss man sich mit diesem Einzelfall auseinandersetzen, aber nicht so lange nichts vorliegt. Dieses grundlegende Rechtsstaatsprinzip steht heute zum Glück außer Frage.
Sie gehörten damals zu den rebellierenden Studenten. Wie sehen Sie das heute?
Es war ein Aufbegehren gegen diese ganzen verkrusteten Strukturen in der Bundesrepublik, gegen Ungerechtigkeiten in der Welt, die ja auch, wie jeder weiß, sehr krass sind. Das hat diese Bewegung auch geschafft. Aber es ist ausgefranst in das Sektierertum dieser kommunistischen Gruppen, die entstanden sind. Insofern ist es eine ambivalente Geschichte. Aber ich kann dankbar dafür sein, dass ich es mit Verantwortlichen zu tun hatte, die aus ihrer liberalen Gesinnung heraus das getan haben, was man heute deeskalieren nennt.
Sie meinen Leuten, wie den damaligen Präsidenten der Universität Stuttgart-Hohenheim George Turner. Wussten Sie damals, dass er sich trotzdem dafür eingesetzt hat, dass Sie doch noch Lehrer an einer staatlichen Schule werden durften? Und dass er dafür sogar den damaligen Kultusminister angerufen hat?
Das wusste ich natürlich nicht. Es wurde nur im Ergebnis sichtbar. Ich wurde ja schließlich auch eingestellt. Wer weiß, wie mein Leben ohne Intervention von Herrn Turner und anderen verlaufen wäre. Ich war ja Maoist. In Wirklichkeit waren meine Informationen über China aber höchst dürftig. Im Rückblick kann ich sagen, das waren alles doch sehr christlich imprägnierte Impulse – letztlich. Man steht auf der Seite der Schwachen, ohne das realpolitisch einzusortieren, zu überprüfen. Bei mir begann während des Referendariats ein Lösungsprozess von diesen Sekten. Da war ich raus aus diesen Milieus. Heute würde man das als Blase bezeichnen. Wir bewegten uns immer unter denselben Leuten, entwickelten mit der Zeit einen Tunnelblick und führten hoch ideologisierte Debatten.
Wie erinnern Sie sich an die Anhörungen im Oberschulamt. Da sollte Ihre Gesinnung überprüft werden. Und Sie wurden mit den Ergebnissen der Observation des Verfassungsschutzes konfrontiert.
Wir sind hingegangen zu den Anhörungen, aber mit einer Freund-Feind-Einstellungen. Unterstützt hat mich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Besonders gestört hat mich dann, dass die Beamten unterm Tisch immer mal wieder ein Dokument hervorzogen und gefragt haben, stammt es von Ihnen? Das hat die eigenen Vorurteile und die Freund-Feind-Einstellung nur bestätigt. Das führte nur zu Kollateralschäden. Damit hat man die Betroffenen erst mal in Gegensatz zum Staat gebracht. Ein freiheitlicher Verfassungsstaat fällt aber keine Gruppenurteile, sondern überprüft die jeweiligen Personen, den Einzelfall. Das genau unterscheidet ihn von allen anderen Staatsformen und Diktaturen. Deswegen ist ein Berufsverbot immer was Ambivalentes. Da geht es um die eigenen Grundsätze. Das sind immer sehr schwierige Abwägungsfragen. Denn der moderne Verfassungsstaat ist kein weltanschaulicher Staat. Jeder kann in ihm die Überzeugung verfolgen, die er hat, solange er nicht mit Gesetzen in Konflikt gerät und sie übertritt.
Und das gilt auch für Beschäftigte im öffentlichen Dienst?
Wer in den Staatsdienst geht, muss die verfassungsrechtliche Ordnung aktiv vertreten. Ein Lehrer darf seine Schüler beispielsweise nicht indoktrinieren mit seiner eigenen Anschauung. Dinge, die kontrovers sind, die muss er auch als kontrovers darstellen. Das ist in der Pädagogik nichts Neues. Das weiß ein guter Lehrer auch, ohne dass man diese Grundsätze hätte aufstellen müssen.
Sie selbst standen zwei Mal als angehender Lehrer vor dem Aus. Zunächst beim Vorbereitungsdienst für das Lehramt und dann nach dem zweiten Staatsexamen. In der gleichen Zeit hatten Sie das erste Kind, Sie mussten eine Familie ernähren. Wie schwierig war diese Unsicherheit für Sie?
Ich habe das aber nicht als bedrückend empfunden. Man muss wissen, die Macht von Ideologien ist sehr stark. Meine Frau hat das alles seit eh und je für Blödsinn erachtet. Sie war Lehrerin, insofern hatten wir erst mal unser Auskommen. Ich bekam dann übergangsweise einen Job als Lehrer an der Stuttgarter Kosmetikschule. Später habe ich eine Schülerin von damals dann beim SWR in der Maske getroffen. Das sind schon witzige Begegnungen.
An der Universität Heidelberg wird der Extremisten-Beschluss von 1972 derzeit wissenschaftlich aufgearbeitet. Wie soll man heute mit dieser Geschichte umgehen?
Ich hatte damals mit guten Fürsprechern einfach Glück, andere hatten das nicht. Das kann auch viele Menschen in ihrer Entwicklung schwer überfahren. Und das zu untersuchen, ist einfach wichtig. Wir wollen aus der Geschichte was mitnehmen, damit wir dieselben Fehler nicht immer wieder machen. Das gilt auch für den Erlass von damals. Ich dachte vor Jahren, die Demokratie ist gefestigt, ist attraktiv. Immer mehr Staaten wurden demokratisch. Heute wissen wir, nichts ist sicher und man muss für die Demokratie und für ihre Prinzipien immer wieder kämpfen und sie immer wieder erneuern.
Sie hatten in den 1970er-Jahren Glück, andere nicht. Viele von ihnen fordern, der Staat möge sich entschuldigen – sie wollen rehabilitiert werden.
Das ist sicher sehr schwierig. Kollektiv kann man sich erst mal nicht entschuldigen, da sind Fälle drunter, die waren berechtigt, andere nicht, manches liegt in einem Zwischenbereich. Also ich meine, wir warten jetzt einfach mal diese wissenschaftliche Studie ab. Und wenn uns die vorliegt, dann können wir uns mit der Frage auch noch einmal befassen. Aber letztlich muss man immer den Einzelfall überprüfen, prüfen, ob jemand Unrecht geschehen ist oder nicht. Und man muss sich dann bei den Leuten konkret entschuldigen.
„Jagd auf Verfassungsfeinde – Der Radikalenerlass und seine Opfer“. Montag, 17. Jan. 2022, 23.35 Uhr in der ARD. In der Mediathek schon online verfügbar.
Als Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) sich am 28. Januar 1972 mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer zusammensetzte, um „die Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen“ zu beraten, entstand ein Gesetz, das als Radikalenerlass in die Geschichte einging. Ins Visier gerieten vor allem Linke, wobei allein die Mitgliedschaft zum Beispiel in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) genügte, um als Verfassungsfeind verdächtigt zu werden. Vom Postboten bis zum Bahnhofswärter: Wer Beamter werden wollte, wurde durchleuchtet. Von 1972 bis zur endgültigen Abschaffung der sogenannten Regelanfrage, zuletzt 1991 in Bayern, wurden bundesweit insgesamt 3,5 Millionen Personen vom Verfassungsschutz überprüft, Akten über sie angelegt. Die staatliche Gesinnungsschnüffelei führte zu 11.000 Berufsverbotsverfahren, mehr als 1.250 BewerberInnen für den öffentlichen Dienst wurden nicht eingestellt, rund 260 Personen entlassen. Sie mussten sich mit anderen Jobs durchschlagen, leben heute teils in prekären Verhältnissen oder zumindest mit einer deutlich geringeren Rente, als sie in dem Beruf, für den sie ausgebildet wurden, eigentlich hätten haben können. Brandt räumte schon 1988 ein, dass der Radikalenerlass ein Fehler gewesen sei, er habe nicht geahnt, „welcher Unfug damit getrieben werden würde“. (sus/os)
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