piwik no script img

„Das war doch selbstverständlich“

Die heute 93jährige Susanne Witte versteckte von 1942 bis 45 die jüdische Mutter einer Freundin. Anfang März wird sie von der israelischen Gedenkstätte Jad Vaschem geehrt  ■ Von Philipp Gessler

„Diese Feierei finde ich ganz überflüssig“, sagt Susanne Witte, und die sanfte, 93 Jahre alte Dame wird dabei fast so etwas wie ärgerlich. Anfang März wird die Berlinerin von der israelischen Shoah- Gedenkstätte Jad Vaschem als „Gerechte der Nationen“ geehrt. Nur etwa 400 Deutsche bekamen diese Auszeichnung bisher: Alles sogenannte Judenretter – unter ihnen bekannte Leute wie Oskar Schindler, viele Unbekannte und überdurchschnittlich viele Berliner, denn nirgendwo wurden soviele Juden versteckt wie in der Hauptstadt (siehe unten).

Zusammen mit Susanne Witte wird auch Elisabeth („Lilly“) Wust geehrt, da sie auch vier Jüdinnen versteckt hat. Ihre Liebe zu einer von ihnen wird derzeit durch „Aimée und Jaguar“, den Eröffnungsfilm der Berlinale, Tausenden bekannt. Doch während Lillys gefährlicher Einsatz jemandem galt, der ihr sehr nahe stand, half Susanne Witte einer Frau, die sie vorher noch nie gesehen hatte. In der Nazizeit verbarg sie in ihrer Wohnung mehr als zwei Jahre lang die Mutter einer Freundin, die selbst von den Nazis ermordet wurde.

„Ich bin auf dem Weg, sorge Du für meine Mutter“, schrieb Ruth Casper 1942 auf einer Karte, die sie vor dem Transport in die Vernichtung noch an Susanne Witte schicken konnte. Ruth Casper, geboren 1905, war eine Kollegin von Frau Witte: eine Sozialarbeiterin, „Fürsorgerin“, wie es damals hieß. Sie wurden auf der Katholischen Sozialen Frauenschule in Charlottenburg ausgebildet, einer Art Fachhochschule für Sozialarbeit.

Auch nach der Ausbildung brach der Kontakt zwischen den Sozialarbeiterinnen nie ab, da sie beide in Moabit wohnten, denselben Beruf hatten – und denselben Glauben. Ruth war 1926 zum Katholizismus konvertiert und nahm den Vornamen „Ruth-Maria“ an. Für die Nazis blieb sie jedoch eine Jüdin und somit der Verfolgung durch den Staat unterworfen. 1933 verlor Ruth Caspar ihre Stelle, fand nur noch für kürzere Perioden Arbeit und Unterkunft – bis sie abtransportiert wurde.

„Wahnsinnig erschüttert und aufgeregt“, so erinnert sich Susanne Witte, sei sie ob der Bitte Ruths gewesen, ihrer Mutter zu helfen: Regina Kirschbaum, geschiedene Casper, werde in einem Transport jüdischer Künstler aus Leipzig nach Berlin in ein Sammellager gebracht. Kirschbaum war Kammersängerin, geboren 1879. Witte fand das Lager, nicht aber die Mutter – sie hatte sich im Keller versteckt, als alle anderen zum Weitertransport auf Wagen geladen wurden.

Doch schon am Abend stand Regina Kirschbaum vor Susanne Wittes Wohnung in der Putlitzstraße 17. Das Haus steht noch heute – unweit des Denkmals, das an die Transporte in die Vernichtungslager vom Güterbahnhof Moabit erinnert. „Kann ich bei Ihnen bleiben?“, fragte Frau Kirschbaum – Susanne Witte sagt, sie habe keinen Augenblick gezögert, die alte Frau aufzunehmen. Das sei „selbstverständlich“ gewesen, betont sie zweimal. „Ich habe doch täglich die Katastrophen mit den jüdischen Menschen gesehen“, versucht sie zu erklären, sie sei doch mit Frau Kirschbaums Tochter so lange verbunden gewesen.

So lebte Regina Kirschbaum von Ende 1942 bis Mai 45 bei der unverheirateten Susanne Witte in einer Zweieinhalbzimmer-Wohnung, was „keine Schwierigkeit“ gewesen sei. Dem Nazi nebenan und anderen im Haus erzählte Witte, sie habe „Besuch“. Niemand fragte ernsthaft nach, die meisten seien wohl mit eigenen Ängsten und Sorgen zu beschäftigt gewesen, vermutet Witte.

Zusätzliche Lebensmittel und Lebensmittelkarten steckten ihr Freunde zu: „Die wußten alle davon.“ Kirschbaum blieb tagsüber in der Wohnung, machte den Haushalt. Gefährlich wurde es bei Bombardements, wenn auch sie in den Luftschutzkeller fliehen mußte. Da gab es Kontrollen.

Die Angst vor Entdeckung zerrte auch an Susanne Wittes Nerven. Dann habe sie Frau Kirschbaum, eine gläubige Jüdin, aufgerichtet: „Wir glauben doch beide an denselben Gott“, habe sie gesagt, „der wird uns beschützen.“ Beschämt sei sie da gewesen, erzählt Susanne, „erschüttert vom tiefen Glauben dieser Frau.“

Nach dem Krieg emigrierte Kirschbaum nach London, wohin ihre beiden älteren Töchter rechtzeitig geflohen waren. Dort starb sie wenig später. Ihre Töchter riefen ab und zu bei Susanne Witte an, schrieben Briefe, ließen Grüße an „die Susi“ ausrichten: Man werde ihr das nie vergessen. Frau Kirschbaum aber hat ihre Retterin nie wieder gesehen. Auch nach zwei Jahren in einer Wohnung haben sich die beiden nicht geduzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen