: Das sind schöne Ideale
■ betr.: „Angst essen Zukunft auf“, taz vom 28.4. 97
Die Rede Roman Herzogs war erschreckend, weil den Mann die Dialektik seiner Aussagen nicht interessiert oder er sie womöglich gar nicht erkennt. In aller Deutlichkeit legt der Präsident sein eingeschränktes Verständnis unserer Gesellschaft dar. Zunächst sieht er sich demselben Dilemma gegenüber wie alle Reformer.
Unsere gegenwärtige Lebensweise bringt die Probleme hervor, denen wir uns gegenübersehen, sie wirft aber auch den Überschuß ab, den wir (auch Grüne) so gerne umverteilen. Wer künftig Geld umverteilen möchte, muß schauen, daß die Wirtschaftskuh weiterhin läuft, mit allen Widersprüchen dieses Prozesses. Wer unsere Ökonomie ernsthaft reformieren (noch nicht einmal revolutionär verändern) möchte, setzt das Funktionieren des Bekannten aufs Spiel. Herzog hat sich darauf festgelegt, der Wirtschaftskuh alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen und das Melken so gering wie möglich zu halten. Drei Beispiele für Herzogs widerspruchsfreies Denken:
– Er bemängelt den fehlenden Schwung des Wachstums der deutschen Wirtschaft, verglichen mit den USA oder asiatischen Staaten. Diese These belegt er an kürzeren Produktzyklen, ohne sich zu fragen, wie lange dies weitergeführt werden kann und ob daraus ein Nutzen für die breite Bevölkerung entsteht.
– Herzog fragt sich, wer überhaupt noch den Gang der Gesellschaft bestimmt, und meint, dieser würde zwischen Parlamenten und kritischer Öffentlichkeit gefunden, wobei er letzteren einen eher bremsenden Einfluß beimißt. Wer hat aber beispielsweise über die zunehmende Computerisierung unserer Gesellschaft in den letzten 20 Jahren abgestimmt? Wer entscheidet, ob Gentechnik unsere Gesellschaft morgen gänzlich verändert? Ist die Wissens- und Informationsgesellschaft, die automobile, die atomare, die individualisierte, die konsumorientierte Zukunft Konsens in unserer Gesellschaft? Herzog sieht nicht einmal, daß die Entscheidung über diese Entwicklung sich zwingend aus der Anhäufung von Kapital ergibt und wir noch nicht einmal über die demokratischen Mittel verfügen, diesen Gang zu beeinflussen.
– Herzog fordert, daß alle, wirklich alle Besitzstände auf den Prüfstand gestellt werden zugunsten eines neuen Gesellschaftsvertrages. Darunter versteht er aber nur die sozialen Errungenschaften, die sozialen Mindeststandards, die oftmals in langen Arbeitskämpfen errungen wurden. Ihm kommt nicht in den Sinn, daß unter Besitzstand auch der angehäufte Reichtum weniger Mitbürger, der Besitz an Produktionsmitteln, die oftmals unvorstellbaren Geldvermögen oder privater Grundbesitz verstanden werden können.
Herr Herzog hat vollkommen recht, daß wir uns zuerst klar werden müssen, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben wollen und daß wir wieder (unter Deutschen müßte das präzisiert werden) eine Vision brauchen. In seiner Vision strebt Herr Herzog eine Gesellschaft an der Selbständigen, der flexiblen und mobilen ArbeitnehmerInnen, eine solidarische Informations- und Wissensgesellschaft, die internationale Verantwortung für die kulturelle Identität der Völker übernimmt. Das sind schöne Ideale. Wie oben bereits erwähnt, geben wir aber im Zuge der globalisierten Kapitalanhäufung die Möglichkeiten aus der Hand, mitzubestimmen, wie diese Ideale ausgestaltet werden. Wird kulturelle Identität nur in Hollywood geschaffen? Ist Freiheit des einzelnen künftig mit Konsumfreiheit synonym? Verstärkt die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt die Vereinzelung in unserer Gesellschaft? Wird die Informations- und Wissensgesellschaft nicht nur zur weiteren Monopolisierung der Weltwirtschaft einerseits und zu Tittytainment für die Massen andererseits führen? Wird unsere internationale Veranwortung dazu genützt, zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zu gelangen, oder verbirgt sich dahinter lediglich der Anspruch, auch im 21.Jahrhundert weiterhin zu den Gewinnern, zu den Unterdrückern und Ausbeutern zu gehören?
Unser eigentliches Problem ist nicht ein mentales, sondern ein Erkenntnisproblem. Wir, und allen voran Roman Herzog, wollen die Triebkraft unserer Gesellschaft nicht beim Namen nennen oder gar Kontrolle über sie erlangen. „Solange wir die Vorherrschaft des Geldes nicht überwinden, können wir die Selbstzerstörung unserer Wirtschaft nicht verhindern“ (Helmut Creutz). „Obwohl der Westen selbst schon seit mehr als einem Jahrzehnt sein eigenes Armutsdrittel beklagt, obwohl also die westliche Krise genauso real ist wie die des Südens und Ostens, wird sie nicht in ihrer Tiefe erkannt und ernst genommen, weil der Massenkonsum im Vergleich zum Süden und zum Osten selbst die westlichen Verliererschichten noch an die ungebrochene kapitalistische Normalität glauben läßt.
Der globale Vernichtungs- und Verteilungskampf wird nirgendwo eine marktwirtschaftliche Insel der Seligen aussparen.“ (Robert Kurz) Horst Böttinger-Thyssen,
Konstanz
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