: „Das ist, salopp gesagt, Braindrain“
Die Hamburger Staatsanwaltschaft klagt seit Jahren über Überlastung. Der Senat hat zwar neue Stellen versprochen – doch noch türmen sich die offenen Verfahren

Interview Friederike Gräff
taz: Sind Sie als Staatsanwalt selbst auch überlastet, Herr Koltze?
Sebastian Koltze: Die Frage kann ich so nicht beantworten. Ich habe viel zu tun.
taz: Laut Hamburger Senat ist die Zahl der offenen Verfahren innerhalb von drei Monaten um 18 Prozent auf 56.975 gestiegen. Warum sind es so viele?
Koltze: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Wir haben in den letzten Jahren häufig erst dann Stellen bekommen, wenn es konkrete Aufgaben zu erledigen gab. Zum Beispiel bei den Encrochat-Verfahren oder im Bereich von Hate-Speech. Aber allein mit dem Argument Arbeitsbelastung war in den letzten Jahren nichts zu gewinnen. Und die Stellen waren dann an die Bearbeitung dieser Verfahren geknüpft. Das heißt, für den Verfahrensstau in den allgemeinen Abteilungen nützen sie nichts.
taz: Der Senat hat letztes Jahr 28 neue Stellen versprochen. Bedeutet das Entwarnung?
Koltze: Die Wirksamkeit dieser Stellen kommt ja nicht sofort. Sie müssen erst mal geschaffen werden, sie müssen besetzt werden. Und die Kolleginnen und Kollegen, die dann für eine Tätigkeit gewonnen werden, müssen hier ausgebildet werden. Bis eine Entlastung spürbar ist, kann sich das sechs bis neun Monate hinziehen.
taz: Was ist aus Ihrer Sicht das das größte Problem an den unerledigten Fällen?
Koltze: Ein Problem ist sicher, dass sich Zeuginnen und Zeugen im Verfahren nicht mehr richtig erinnern können, wenn die Taten so lange zurückliegen. Und ein anderes ist der Grundsatz, dass gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden die Strafe möglichst auf dem Fuße folgen sollte. Der ist dann nicht mehr gewährleistet. Und die unerledigten Verfahren machen selber Arbeit. Ich bekomme als Staatsanwalt dann Sachstandsanfragen von denjenigen, die Anzeige erstattet haben. Darauf hat der Bürger Anspruch und er soll gerne Auskunft bekommen – es hält einen aber von der Bearbeitung anderer Akten ab.
taz: Ein Lösungsvorschlag, den der Hamburgische Richterverein für die unbesetzten Stellen gemacht hat, war schlicht ein höheres Gehalt. Das liegt im Bundesvergleich im oberen Mittelfeld. Wie kommt es, dass Sie trotzdem mehr Geld fordern?
Koltze: Wir kämpfen seit 2008 für eine höhere Besoldung. Wir sind der Ansicht, und das ist auch zum Teil gerichtlich bestätigt, dass die Besoldung von Richterinnen und Richtern und Staatsanwältinnen und Staatsanwälten In Hamburg verfassungswidrig niedrig ist. Wir möchten verfassungsgemäß besoldet werden.
taz: Inwiefern verfassungsgemäß?
Koltze: Das Grundgesetz verpflichtet den Dienstherren, also den Bund und die Länder, seine Beamtinnen und Beamten ihren besonderen Aufgaben und ihrer Ausbildung entsprechend zu bezahlen. Dazu haben die Verwaltungsgerichte in den letzten Jahren bestimmte Kriterien, sogenannte Parameter, aufgestellt. Und die werden regelmäßig von den Landesbesoldungsgesetzen gerissen. Ich glaube, wir haben in Hamburg eigentlich gute Startvoraussetzungen. Wir sind ein attraktiver Stadtstaat, wir haben an den Gerichten und der Staatsanwaltschaft große Einheiten, in denen sich vielfältige Aufgaben bieten. Die jungen Kolleginnen und Kollegen sind ja häufig auf der Suche nach einer Tätigkeit, die man so gerne sinnstiftend nennt. Das können wir bieten.
taz: Wo also ist das Problem?
Koltze: Wichtig ist, dass wir die jungen Kolleginnen und Kollegen weiter bei uns halten, dass wir sie begeistern. Und da, glaube ich, ist noch Luft nach oben. Der Stadtstaat Hamburg hat wiederum Standortnachteile, weil es hier selbst für die mit der entsprechenden Besoldung ausgestatteten. Kolleginnen und Kollegen kaum möglich ist, eine citynahe Wohnung zu mieten oder gar Eigentum zu erwerben.
taz: Und was ist mit Stellschrauben wie Arbeitszeitflexibilisierung und Möglichkeit zum Homeoffice?
Koltze: Da sind wir dabei und ich glaube, dass das Faktoren von einiger Wichtigkeit sind. Gerade die Möglichkeit zum Homeoffice. Da verspreche ich mir einiges von der Einführung der E-Akte, die es dann also nicht mehr erforderlich macht, eine Papierakte vor sich zu haben. Wir haben bereits flexible Arbeitszeiten. Das reduziert sich allerdings in der Praxis durch die hohe Arbeitsbelastung, die gerade bei den jüngeren Kolleginnen und Kollegen bei 50 Stunden liegt.
taz: Es wird ja immer argumentiert, dass die besten Studierenden statt in den Staatsdienst in die freie Wirtschaft gehen. Aber da arbeitet man genau so viel.
Koltze: Aber wenn ich als junger Jurist vor der Wahl stehe, arbeite ich bei der Staatsanwaltschaft 50 oder 60 Stunden und bekomme eine verhältnismäßig geringe Besoldung oder gehe ich in eine Großkanzlei und bekomme für 60 Stunden das Doppelte oder mehr, dann kann das manchmal schon ein entscheidender Faktor sein.
taz: Das Argument sinnstiftend hilft da nicht?
Koltze: Nein, irgendwann helfen dann auch eine sinnstiftende Tätigkeit und eine kollegiale Atmosphäre nicht mehr. Wir erleben auch eine höhere Flexibilität der jungen Leute. Als ich Anfang der 2000er zur Staatsanwaltschaft gekommen bin, war es eine Option, innerhalb der Justiz oder in ein anderes Bundesland zu wechseln. Aber jetzt wechseln sie komplett.
Der Hamburgische Richterverein hat mit einem offenen Brief auf die schwierige Situation in der Hamburger Staatsanwaltschaft hingewiesen und eine neue Personalpolitik gefordert.
Im Mai hatte der Hamburger Senat auf eine Anfrage der CDU zur Situation der Staatsanwaltschaft geantwortet. Derzufolge gab es am 31. 12. 2024 in Hamburg 47.953 offene Ermittlungsverfahren, am 31. 03. 2025 waren es 56.957.
Im vierten Quartal 2024 wurden 34.233 Bekanntsachen (also Verfahren, in denen der Täter bzw. die Täterin bekannt sind) erledigt, im ersten Quartal 2025 waren es 40.584. Die durchschnittliche Verfahrensdauer lag konstant bei 2,9 Monaten.
taz: Wohin?
Koltze: Ich weiß nicht, wo die Kolleginnen und Kollegen hingehen. Da fehlt nach meinem Dafürhalten auch ein Stück weit das Nachfassen. Es wäre möglicherweise ja auch für die Personalplanung interessant, nachzufragen: Warum gehst du? Wohin gehst du? Was versprichst du dir davon? Wir haben letztes Jahr das Phänomen gehabt – und das hat es nach meiner Kenntnis in den letzten Jahrzehnten in Hamburg nicht gegeben –, dass uns eine Oberstaatsanwältin und ein Oberstaatsanwalt verlassen haben. Wo die hingegangen sind, weiß ich ziemlich genau.
taz: Nämlich?
Koltze: In Wirtschaftskanzleien. Das ist das, was man salopp Braindrain nennen kann. Da geht uns Kompetenz verloren, die mühsam wiederaufgebaut werden muss.
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