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■ Das deutsche Feuilleton und Christa WolfDer Zeitgeist ist Anarchist

Drei Peitschenhiebe übern Ozean: „Halten Sie der Würde Ihres Werkes die Treue. Erklären Sie. Nehmen Sie mir und Ihren Lesern die Traurigkeit“ – so F.J. Raddatz in der Zeit. Nehmen wir einmal an, fernab im Süden von Santa Monica sei dieser Notschrei gehört worden: Was könnte Christa Wolf eigentlich tun – die spitzen Knie der konzentrierten Moral des westdeutschen Feuilletons auf der Brust, den Dorn im Herzen –, um dem traurigen Hamburger Freund die Traurigkeit zu nehmen? Die Antwort heißt: nichts, gar nichts. Die Maßlosigkeit dieser bescheidenen Anfrage ist nicht zu befriedigen. Es ist ein Spiel ohne Grenzen. „Es ist Mord“, pflegte Ingeborg Bachmann in solchen Fällen zu sagen.

Wir werden umlernen müssen: Bisher galt bei aufgeklärten Menschen der katholische Beichtstuhl als Inbegriff subtiler Herrschaftsansprüche und notorischer Intoleranz; jetzt hat er eine moderne Konkurrenz bekommen, die ihn als Waisenknabe der Inquisition ausweist. Jenes mittelalterliche Bußinstitut wahrte die Intimität einer Kirche im Dämmerlicht, verpflichtete zur Anonymität zwischen zweien, die einander nicht beim Namen nennen und denen kein weiteres Ohr zuhören durfte. Es stand unter dem Schutz der Schweigepflicht und in der Tradition uralter Riten. Es eröffnete das Angebot einer symbolischen Entlastungshandlung und endete mit einer Lossprechung: Das Leben war wieder frei.

Die neuen Beichtregeln der modernen Zeiten sind nicht so zimperlich, sie sind barbarisch. Sie kennen keine Form mehr, keinen Ausweg und kein Ende. Heute darf jeder jugendliche Heißsporn den Beichtvater mimen, den „Abschnittsbevollmächtigten für nachholende Moral“ (Max Thomas Mehr). Mit den Akten als Lügendetektor in der Hand gelten keine Grenzen des Verstehens mehr, bei einschlägig bekannten Personen auch nicht so ein Firlefanz wie der Schutz der Privatheit. Unsere Dichter sind volkseigen. Mit Elan wird der Wahrheit eine Bresche geschlagen, daß es nur so dröhnt. Die Generalverdächtige darf die Akte ihrer frühen Jahre – trotz jahrzehntelanger späterer eigener Observation – nicht einsehen, zu der sie mit großem Pathos aufgefordert wird, Satisfaktion zu geben. Es ist dieser Gestus, der beunruhigt: Jederzeit können wir zuschlagen, wenn wir nur wollen. Dieser Hang, keine der Öffentlichkeit abgewandte Seite, kein Geheinmnis zu ertragen, macht die Atmosphäre selbst totalitär. Wer sich selbst nie in Gefahr begibt, weiß doch, wie schön andere darin umkommen.

Genau genommen geht es nicht um Wahrheit, sondern um Dichtung. Wie es die Dichter mit dem Guten, Edlen und Schönen so halten, hat den unbegabteren Teil der Menschheit, also auch die Kritiker, schon immer heftig beschäftigt. Da Künstler nun einmal die Magie besitzen, etwas zu bewegen, sollen sie auch etwas zum Guten bewegen, zuallererst einmal sich selbst. Der Wunsch liegt nahe – und doch gehört er zu den maßlosen Ansprüchen, mit denen Menschen sich überfordern. Die Wahrheit der Kunstwerke liegt nicht in der moralischen Identität ihrer Schöpfer, sondern in ihrer Kunst, Wirklichkeit zu verdichten. Ein Werk, das zu seiner Vervollkommnung das Leben des Autors als Ergänzung braucht, scheint nur halb gelungen. Wie angenehm hingegen, wenn ein Künstler hinter sein Werk zurücktritt und nicht mitgeliebt werden muß! Solche wohltuende Distanz eröffnet einen zivileren Zugang zum Olymp der Musen – und schont zugleich die Künstler.

Die Distanzlosigkeit aber, diese klebrige Haß-Liebe, lädt die neue Debatte um die DDR-Literatur hochneurotisch auf. Gut zu beobachten an dem zweierlei Maß des FAZ-Feuilletons: Während Heiner Müller, der Zyniker, fast zärtlich auf dem ästhetischn Hausaltar dekoriert wird und seinen Platz zwischen Kafka, Brecht und Seneca findet, landet Christa Wolf, die Lieblingsfeindin in Erbfolge von Reich-Ranicki bis Schirrmacher, in der sentimentalen Kitschvitrine zwischen Leni Riefenstahl und Hedwig Courths-Mahler. Genau genommen ist es nicht ihr Werk, was dort landet, sondern die Person; aber da der Jagdinstinkt auf diese Person, Christa Wolf, so groß ist, werden für den Augenblick beide beschädigt, die Frau und ihr Werk. Warum aber gerade sie?

Es liegt nicht an den Akten, es liegt an der Blickrichtung dessen, der die Akten liest. Das Verblüffende ist, daß mit demselben Aktenmaterial mühelos eine ganz andere Medieninszenierung zum Thema „Leben und Werk der Christa W.“ denkbar gewesen wäre. Man hätte beispielsweise über die gezielte Diffamierung, sie habe ihre Unterschrift unter den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns zurückgezogen, reden können und über die Bereitschaft Reich-Ranickis, dies zu glauben. Auch die Frage, warum gerade das brave Kind Christa Wolf das ideale Medium war, in dem der lange Weg von der ideologischen Loyalität bis zur Aufkündigung des Gehorsams sich vollzog, wäre Stoff für Recherchen und Romane. Nicht zuletzt wäre darüber zu reden, woher bei soviel realexistierender Schwäche der Person die Tapferkeit trotz alledem kommt. Es scheint, als ob allein Christa Wolf sich fragt, „wie viele Moralen ich eigentlich in meinem Leben schon in mich aufgenommen, zum Teil ,verinnerlicht‘ habe, warum es jeweils so lange dauerte und so konfliktreich war, mich von ihnen zu trennen...“, während Heiner Müller sich ganz wacker nach dem brechtianischen Motto durchschlägt: „Gern log ich/ für den guten Zweck./ Aber der Zweck,/ das Schwein,/ hat mich verraten.“ (A. Astel) Warum wird er damit durchkommen und sie nicht?

Es ist keine Frage der historischen Gerechtigkeit, es ist eine des Zeitgeistes. Der Zeitgeist ist Anarchist: Heiner Müller paßt in die neue deutsche Kulturszene und ihre zynischen Vorlieben, Christa Wolf nicht. Es geht um einen Tapetenwechsel im deutschen Feuilleton. Christa Wolf war das Herzstück der untergegangenen Kulturnation DDR, so wie Heinrich Böll und Günter Grass das Herzstück von deren siamesischem Zwilling, der Kulturnation BRD, waren. Beiden gemeinsam war, daß in ganz seltenen Glücksmomenten ihrer größten Wirksamkeit der Ort ihrer Kunst mit dem Raum der Politik übereinstimmte: Wolf auf dem Alexanderplatz, Böll in Mutlangen, Grass hinter Willy Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos.

Ob es noch einmal solche Orte der neuen deutschen Kulturszene geben und ob sie überhaupt noch ein Herz haben wird? Wir werden ja sehen. Christa Wolf braucht sich nicht zu beunruhigen – die neuen Herzstücke werden immer noch nach dem alten Maßstab gemessen werden: an ihren Werken. Antje Vollmer

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