Das andere Hollywood: Untere Wasserkante des Lebens
■ Cowgirl, Hure, Pennerin: Lily Tomlin ist zum Star der „Queer Nation“ avanciert
Oft genügt ein kleiner Test, um Qualitätsmängel nachzuweisen. Enzyklopädien des Films, in denen Debra Winger, nicht aber Lily Tomlin verzeichnet ist, gehören unverzüglich auf den Müll. Nicht allein Robert Altman ist seit langem bekannt, daß Tomlin eine große Schauspielerin ist. Lily Tomlin funktioniert als lebende Antithese, was die Regeln des Filmbusineß angeht: Sie können auch anders, sogar in Hollywood.
Ein Bild nimmt alles vorweg. Annie Leibowitz hat Lily Tomlin 1973 in Los Angeles fotografiert, den Kopf mit einem TV-Monitor maskiert, auf dem ein blaustichiges Filmimage von Tomlin erscheint. Die Person Tomlin schminkt die Persona – ein übermächtiges, weil anziehend unschönes Gesicht mit grell verschmiertem Lippenstift. Lily Tomlin wollte eigentlich Medizin studieren, ergatterte aber 1966 einen Job in der „Gary Moore Show“. Drei kurze Jahre später gelangte die 1939 in Detroit geborene und von Kind an kinobesessene Lily in einer Fernsehserie als Telefonistin Ernestine zu nationaler Prominenz. Lachen, immer nur lachen – das fand Tomlin, die das Komödienwunder Lucille Ball sklavisch verehrte, in Ordnung. Erst 1975 gab Lily Tomlin in Robert Altmans „Nashville“ ihr Filmdebüt. Tomlin wird für ihre Nashville-Lady Linnea, die zwei taube Kinder hat – ein fast tragisches Paradoxon – für einen Oscar, Kategorie beste Nebenrolle, nominiert. Das mit der besten Nebenrolle sollte zum Kontinuum von Tomlins Lebens werden.
Nie konnte sich Lily Tomlin, auch sonst „queer“, nämlich lesbisch, richtig als Hollywood-Star etablieren. Abonniert auf die Rolle der sozial integrierten, an der unteren Wasserkante des amerikanischen Traums driftenden Vierzigerin – so hat Lily Tomlin der weiblichen Variante des Losers Gestalt gegeben wie keine zweite, sieht man einmal von ihrer Millionärin in „All of me“ ab. Das verlieh Lily Tomlin natürlich ein Image von minderem Glanz.
Selbst adrett hergerichtet wirkt sie ewig schlampig wie jemand, den die Mühen des Durchhaltens längst überholt haben. Für Komödien war Lily Tomlin sich Gott sei Dank auch nach den Fernseh- und One-Woman-Bühnenshow-Jahren nie zu schade. An der Seite Dolly Partons und Jane Fondas zeigt sie in „9 to 5“, wie Schreibmaschinen zum Leben erwachen, und später stiehlt sie in „Big Business“ als cleveres Cowgirl vom Lande Bette Midler die Show. Woody Allen gab Tomlin in „Shadow and Fog“ eine Rolle als Hure.
„Blue in the Face“ läßt Lily Tomlin eher ahnen als sehen. Dürr, zerlumpt und geschlechtslos wankt sie, ein homeless junkie, vor Augie Wrens Tabakladen herum: Das, wenn auch letzte, so doch verläßlich anwesende Glied einer Gemeinschaft komischer Heiliger. Anke Westphal
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