: Das Vermächtnis des Goldenen Kalbes
Kann es wirklich nur einen geben? Wie weit ist es von Moses’ Erfindung des einzig wahren Gottes bis zu den Religionskriegen unserer Zeit? Im aktuellen Monotheismus-Streit geben Glaubensfragen und wissenschaftliche Argumente der „postsäkularen“ Gesellschaft ein jüdisch-christliches Gesicht
VON ARNO ORZESSEK
„Du sollst“ heißt der große Drache. Aber der Geist des Löwen spricht: „Ich will.“ – Als Friedrich Nietzsche vor 120 Jahren „Also sprach Zarathustra“ veröffentlichte, waren seine Ambitionen so unbescheiden wie immer. Der kränkliche Pfarrerssohn wollte eine verschüttete oder niemals wahrgenommene Perspektive auf den Menschen freilegen – eine Perspektive, in der die Unterscheidung gut/böse keine Rolle spielt und religiöse Heilserwartungen tabu sind. Der altiranische Religionsstifter Zarathustra aber ist der namhafte Anfang des eschatologischen Denkens. Deshalb ließ Nietzsche ihn in verwandelter Gestalt auftreten, die früheren Maximen zurücknehmen und den „Übermenschen“ verkünden, dessen diesseitiges Reich vom „Willen zur Macht“ durchherrscht wird.
Zarathustras neues Programm bekam fatalen Zuspruch aus rechten und später faschistischen Kreisen. Ansonsten scheiterte es auf ganzer Linie. Folgenreich indessen blieb der extravagante Stil der philosophischen Dichtung. Nietzsche hatte die vier Teile als „Symphonie“ zusammengefasst und angemerkt: „Man darf vielleicht den ganzen ‚Zarathustra‘ unter die Musik rechnen.“ Wer Argumente und Diskursivität schätzt, greift tatsächlich besser zur „Genealogie der Moral“. Dafür lässt sich Zarathustra immer noch als Sakralmusik hören und als heilige Schrift lesen, als einzigartiges Kultbuch nach dem akklamierten Tode Gottes. Jedenfalls hat Peter Sloterdijk es oft als solches rezitiert. Auch deshalb firmiert er bei Jürgen Habermas und anderen als Vorreiter jenes „Neu-Heidentums“, das in der „postsäkularen“ Gesellschaft unter maßgeblichen Intellektuellen wenig Kredit hat.
Aber nicht der nietzscheanisch fauchende Peter Sloterdijk, sondern der feinsinnige Ägyptologe Jan Assmann hat den bedeutendsten Streit über das Erbe der monotheistischen Religionen ausgelöst. Mit „Moses the Egyptian“ (1997, deutsch 1998) begann eine Debatte, deren brisanteste Frage bis heute lautet: Ist das allzu oft religiös motivierte Gewaltgeschehen, ist die Intoleranz der Gegenwart unmittelbares Resultat der „mosaischen Unterscheidung“, die vor rund 2.500 Jahren in den Schreibstuben des vorderen Orients getroffen wurde?
Weil der Aufruhr mehrere Fakultäten erfasste und prominente Gegner beim Widerspruch größten Ehrgeiz entwickelten (etwa Rolf Rendtorff, Klaus Koch und Gerhard Kaiser), hat Assmann in die „Die Mosaische Unterscheidung“ den heiklen Punkt im letzten Jahr erneut reflektiert und dem Diskurs frisch zugeführt. Sein methodischer Kniff ist Nietzsches Vorgehen formal vergleichbar. Hatte dieser die abendländische Entwicklung von der simplen Unterscheidung gut/böse her dekonstruiert, erklärt sich Assmann die „menschheitsgeschichtliche Wende“ im vorchristlichen Jahrtausend aus Moses’ revolutionärer Einführung der Kategorien „wahr“ und „unwahr“ in die Religion, was ebenfalls eine schlichte erste Differenzierung ist – aber mit unbegrenzter Wirkung: „Wenn diese Unterscheidung einmal getroffen wird, dann kehrt sie innerhalb der durch sie gespaltenen Räume endlos wieder.“ Der selektive Anspruch der wahren Religion, mit dem die hebräische Erinnerungsfigur Moses die Götterwelt aufmischte, kann demnach nicht getilgt werden.
Letztlich sind die Juden schuld, dass wir Religionskriege führen – hat Assmann niemals gesagt. Er steht vulgären antisemitischen Ressentiments genauso fern wie dem „metaphysischen Antisemitismus“ (Ernst Bloch). Aber er schreibt dem Monotheismus zweifellos ein Moment der Gewalt in die Geburtsurkunde. Er charakterisiert ihn als „Gegenreligion“, die nicht in sich selbst ruht, sondern erst durch kämpferische Opposition und hasserfüllte Abgrenzung zu den „primären Religionen“, jenem bunten Gemisch der Stammes- und Volksreligionen des kosmologischen Zeitalters, die eigene Identität findet. Die Sünde kommt als Abgötterei zur Welt – und damit das schlechte Gewissen. Assmann deutet ähnliche Konsequenzen an, wie sie Nietzsche in blutigen Farben ausgemalt hat.
Wer an Offenbarungen glaubt, wer glaubt, dass der wahre Gott die Menschen aus der Knechtschaft der Vielgötterei – die vermutlich nicht so sonnig und tolerant war, wie Assmann suggeriert – überhaupt erst befreit hat, wird hier natürlich auf die Barrikaden gehen. Wie zum Beispiel Zeit-Redakteur Thomas Assheuer, der den intellektuellen Kernschatten von Jürgen Habermas bewohnt und europaweit jeden neuheidnischen Muckser mithört. Wie der Theologe Erich Zenger (Was ist der Preis des Monotheismus?). Und wie viele, viele andere. Um die Renegaten in Schach zu halten, legen die Monotheisten die jüdisch-christliche Überlieferung konsequent zugunsten dieser Überlieferung aus. Auf die Behauptung des Theologen Hans Zirker, der Monotheismus habe die Menschen aus dem „unüberwindlichen Dualismus von Licht und Finsternis“ errettet, reagierte Assmann deshalb so lapidar wie richtig: „Das ist christlich gedacht.“ Nicht wissenschaftlich. Christlich. Assmann kennt den Unterschied.
In der Monotheismus-Debatte werden rationale Maßstäbe von unwissenschaftlichen, intentionalen Vorentscheidungen unterlaufen und überboten. Starke Symptome zeigten sich jüngst im Dresdner Hygiene-Museum auf der Tagung „Die Zehn Gebote“. Sie war mit der gleichnamigen, zurzeit von 10.000 Besuchern pro Woche (!) frequentierten Ausstellung durch den krassesten Gegensatz verbunden. Während die Zehn Gebote für Ausstellungskurator Klaus Biesenbach bloß „Chiffre eines ethischen Minimums“ sind, galten sie Tagungsleiter Hans Joas als ethisches Maximum. Es ging im vollen Ernst darum, ob sie auch heute gelten.
Und siehe da, die Gebote gelten, und zwar uneingeschränkt – einschließlich der psychologisch verwirrenden Nr. 9 und Nr. 10 nach Katechismuszählung, deren erste Worte lauten: „Du sollst nicht begehren …“. Man muss Moses’ Hammerschläge nur zu deuten wissen, wie es der Frankfurter Religionsphilosoph Hermann Deuser tat, indem er Augustinus, Luther und Kierkegaard aufrief. In der „postsäkularen“ Gesellschaft, die ihre religiösen Ursprünge per definitionem nicht verleugnet, sondern neben den Effekten der Säkularisierung als zweites Fundament anerkennt, haben solche Autoritäten wieder volle Gültigkeit. Plötzlich war nicht mehr das anthropologische Problem „Lässt sich Begehren überhaupt verbieten?“ interessant, sondern Deusers beschwichtigende Einsicht: „Mit der Distanznahme zum Faktum meiner Affektbedingtheit beginnt die Freiheit der Handlung.“ Alles Weitere glich einer Predigt.
Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz fand ausgerechnet im erotischen Hohelied „sämtliche Gelingensbedingungen“ für erfüllte Liebe im Jahr 2004 vorgezeichnet – und das Ehebruchverbot in jeder Weise bestätigt. Dagegen konnte die evangelische Theologin Ilona Nord aus Anthony Giddens’ Einsichten in die Fragilität „intimer Beziehungen“ nur noch Regeln für einen „guten Abschied“ im Zerrüttungsfall destillieren. Gemessen am Hohelied, so das Ergebnis des ungleichen Schlagabtauschs, erledigen neumoderne Soziologen nur schäbige Aufräumarbeiten in den Hinterhöfen der Realität. Höhere Geistwesen jedoch leben monogam und lesen die Bibel. Und dulden, wie der katholische Theologe Dietmar Mieth, nicht einmal skrupulöseste Erwägungen über die „Grenzen des Tötungsverbots“. Rechtsphilosoph Horst Dreier stellte trotzdem welche an. Da kochte der heilige Zorn.
Und Jan Assmann? Er ist vorsichtig geworden. Er weiß, dass er sich durch seine Liebe zum alten Nilvolk neuerdings angreifbar macht. Er weiß, dass der Polytheismus heute rechts verortet wird. Er hält deutlichen Abstand zu frivolen Anhängern der Vielgötterei, wie sie sich etwa in den Erzählerstimmen von Michel Houellebecqs „Plattform“ und Philip Roths „Der menschliche Makel“ populär artikulieren. Bei Roth werden die griechischen Götter wegen ihres „göttlichen Makels“ bejubelt: „Sie hassen. Sie morden. Sie ficken.“ In solchen Jubel stimmt Assman natürlich nicht ein. Er überraschte in Dresden, indem er die aufklärerischen Aspekte des Bilderverbots zeigte, das für ihn die „Signatur des Monotheismus“ ist.
Assmann erinnerte zwar daran, dass das Bilderverbot „mitten durch die eigene Gruppe“ geht. Es trenne „Brüder, Freunde, Nächste“. In diesem Lichte gebe es „keine natürlichen Bindungen mehr“. Als aber die Gewaltgeschichte der Rechtgläubigkeit schon in Sicht war, ging er keinen Schritt weiter, sondern unterstrich, dass das Bilderverbot an der „Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft eingebildeter Mächte“ mitgewirkt habe. Es gelang (nur) ihm, etwaige Glaubensentscheidungen unsichtbar zu machen, und das heißt bedeutungslos. Er setzte Argumente ins Recht und mentale Vorlieben. Assmann tadelte die „fernsehsüchtige“ Jetztzeit. Er koalierte mit Goethe, von dem die Einsicht stammt, das man ohne Nebenwirkungen viel „dummes Zeug“ schreiben kann – und genauso die Warnung: „Dummes aber, vors Auge gestellt, hat ein magisches Recht. Weil es die Sinne gefesselt hält, bleibt der Geist ein Knecht.“ Man hatte von Assmann starkes Kontra aufs Bilderverbot erwartet. Er jedoch war versöhnlich.
Die Pointe des Monotheismus-Streits indessen ist absehbar. Gegen die Dignität der jüdisch-christlichen Überlieferung, gegen das „Du sollst“ und seine erstarkten Anhänger, kommen Skeptiker, Freigeister und Liberale schwerlich an. Zumal sie riskieren, bei Einspruch in die falsche Ecke gedrängt zu werden. Es fehlt ihnen ein ideelles Gegengewicht, so etwas wie jene „neue Mythologie“, der die Frühromantiker einst auf der Spur waren. Um 1800 ging es noch um den Ausgleich von Säkularisierungsdefiziten. Nun hat sich der Wind gedreht. Der Unglaube beginnt alt auszusehen, gerade weil sich Glaube und Wissenschaft verbinden. Man kann diese Entwicklung mit Zarathustra kommentieren: „Nein! Nein! Dreimal Nein!“ Aber auf Abtrünnigkeit hat der Monotheismus von Anfang an empfindliche Strafe ausgesetzt. Als Mose das Goldene Kalb zerstört hatte, rief er die Rechtgläubigen zu sich und befahl: „Ein jeder gürte sein Schwert … und erschlage seinen Bruder, Freund und Nächsten.“