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Das SchlaglochDie letzte Rebellion

Kommentar von Mathias Greffrath

Ein Gespräch über Bürgerlichkeit und die Flechtslipper des Parteivorsitzenden Beck in Zeiten des Nachmittagsfernsehens.

E s regnete, als der Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für europäischen Denken die Eingangshalle des Berliner Hauptbahnhofs passierte, vorbei an Imbißsituationen, die der Bewegung der wirklich Reisenden im Wege stehen. Während er noch diese unbewußt-bewußte Zerstörung aller funktionalen Objektivität, an der die Subjektivität des privaten Einzelnen sich stoßen könnte, reflektierte, spürte er nur allmählich, wie er nass wurde. Kein Taxi. In der S-Bahn roch es nicht gut. Schlimmer noch: inmitten einer Monstrositätenschau öffentlicher Formlosigkeit fand er sich eingekeilt zwischen Männern in einer Art Schlafanzug; unglücklichen Personen, aus dem Nachmittagsfernsehen entsprungen, und jungen Frauen von walroßartigen Dimensionen, umgeben von ihrer Nachkommenschaft, Jungwalrössern. Dazu Zeitungsverkäufer, die nölend von ihrem Recht Gebrauch machten, jederzeit ihr Elend jedem erzählen zu dürfen! Diese, so dachte er, inkorporieren geradezu physisch den Verlust des Willens zur Selbstdarstellung - ein Menschenschlag, der weder verteidigungsfähig noch verteidigungsbereit ist. Kein Wunder, dass wir in Afghanistan nur uniformierte Sozialhelfer stehen haben.

In der Redaktion warteten, unter einem Plakat mit der Parole KEIN WILLE ZUR MACHT, bereits die Autoren. "Ich möchte", sagte der Herausgeber, "dem 700. Heft den Titel DEKADENZ geben, denn dieses Phänomen kulturell und politisch schlaffer Bescheidenheit wuchert, von der Entschuldigungslitanei für die europäischen Kolonialpolitik bis zur privaten Miserabilität, die qua Massenmedien normative Wirkung zeitigt." Zustimmendes Murmeln, leises Knarren des Parketts, Rotwein. "Kapitalismus oder Barbarei", ergänzte der Mitherausgeber, "so fragten wir schon vor vier Jahren. Wie sieht die Bedrohungslage heute aus?"

Siegfried Kohlhammer meldete sich als Erster: "Was der Kommunismus brachte, war 'Sinn'. Das hat die tyrannophilen Intellektuellen des Westens beeindruckt." Er ließ ein längliches Referat über Kenneth Galbraith, Ernesto Cardenal, Jürgen Habermas folgen, ging dann zu John Dewey, Upton Sinclair, und John Maynard Keynes über. Die Anwesenden blickten zum Stuck, aber erst, als er, in einer komplexen Engführung, Bakunin mit seinem Motto "Ich will nicht 'ich', ich will 'wir' sein" als Urvater dieses Hasses auf die eigene Gesellschaft identifizierte, wuchs die Unruhe. "Die Bedrohung ist vorüber", schloss der Referent schnell, "Konsumenten tun die Sinnfrage als quasireligiösen Unsinn ab oder ignorieren sie einfach."

"Verharmlosung", unterbrach heftig Ulrike Ackermann. "Der Schoß, aus dem dieses ideologische Gemisch aus Konsum- und Kulturkritik kroch, ist immer noch fruchtbar. Adornos Diktum, es ,gibt kein wahres Leben im falschen' besetzt noch viele Köpfe. Ungebrochener bürgerlicher Optimismus ist bis heute verpönt." Aus der Ecke rief Jörg Lau: "Überhaupt Adorno! Seine ,Minima Moralia' erinnern fatal an die ,Meilensteine' des Sayyid Qutb, die bis heute jeder junge Djihadist mit geistigem Anspruch lesen muß." Richard Herzinger sekundierte: "Bei Bin Ladens Anklagen kommen Konsumkritiker, Ökologen, Klimaschutzenthusiasten und Feministinnen auf ihre Kosten. Allerdings muss ich sagen: Die Empörung über extreme Ungleichheit ist berechtigt. Lediglich das historische Subjekt mit Gegenentwurf ist verschwunden. Selbst den naiven Mitläufern von Attac kommt bei Chávez das Gruseln. Die Frage lautet also: Wird der Kapitalismus an seiner eignen Dekadenz zugrunde gehen?"

"Spengler!", krächzte es in höchster Erregung vom Buffet. Der pensionierte Beamte Uwe Simson erhob die Stimme. "Der nachlassende Überlebenswille zeigt sich darin, daß die Kern-Familie ihre Zukunftsfähigkeit einbüßt und der Wirtschaftsführer zum Sklaven des Finanzmannes sinkt. Dazu panem et circenses, der Verfall der Staatshoheit und der qualitativen Unterschiede zwischen Menschen - Rang, Kompetenz, zivilisatorische Standards - die begründen können, warum irgend jemand etwas nicht kriegt oder darf. Spengler kam zu dem Schluss, dass die Demokratie eigentlich nur dort richtig funktionieren kann, wo keine größeren Probleme zur Entscheidung anstehen. Höchst aktuell, oder?"

Ein Glas fiel zu Boden. "Ich sage nicht: die Demokratie abschaffen" - gebannt von der Konsequenz seiner Worte wog Simson jetzt jedes Wort -, "aber ist ihre derzeitige Erscheinungsform die einzig denkbare? Wenn auch uns Opfer, von der Art, wie sie ein Entwicklungsland bringen muß, bevorstehen? Dabei denke ich nicht nur an die Rente, sondern auch daran, dass unsere Selbstbehauptung ohne Einsatz von Machtmitteln nicht auskommt. Ich sage nur: Sure 9, Vers 29!"

Norbert Bolz nahm ein neues Glas. "Dekadenz heißt", hob er an, "die Tyrannei der Wohltaten erzeugt Sklavenmentalität, und der Schlaf der wohlfahrtsstaatlichen Vernunft hat das Ungeheuer einer Welt als Kinderkrippe und Altersheim geboren. Es herrschen die männlichkeitsfeindlichen Ersatzreligionen: Feminismus, Pazifismus, Environmentalismus. Die Frage ist, wie man Männlichkeit in einer pazifistischen Welt, in der die neuen Heilsgottesdienste des Konsumismus und der Protestbewegung gesiegt haben, wieder hochbringen kann."

"Hochbringen ist das richtige Wort", flüsterte Joachim Helfer. "Im Westen nimmt die Zahl befruchtungsfähiger Samenfäden im Ejakulat von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ab. Streß im Beruf und Nervenkitzel in der Freizeit gehen auf die Potenz. Den Rest gibt den Hoden der westliche Aberwitz, ausgerechnet Männer Hosen anhaben zu lassen, während sich im Orient Männer mehrheitlich geschlechtsgerecht bekleiden." Angestrengtes Schweigen. "Boh", sagte endlich ein eleganter Mann mittleren Alters, nennen wir ihn Ulf Poschardt, "sollen wir jetzt Djeballahs tragen, Siesta halten und Flechtslipper tragen wie dieser Parteivorsitzende Beck? Nein, wir müssen das Kuschellager dieses Volkes von Kleingärtnern mit Meerschweinchenzäunen aufkündigen. Mut zum Stil ist die letzte Rebellion. Jedes schöne Auto, jede raffinierte Frisur, jede neue Farbkombination macht das Land besser, schafft Citoyens und bedroht die Bequemen und Schmerbäuchigen."

Zustimmung breitete sich wohlig aus. Und so kam es, dass in Charlottenburg, bei gutem Rotwein und angeregten Wortwechseln über reaktiven Stolz, die Eminenz von Textilien und Charakteren, den Verlust des aristokratischen Tugendkanons und die mächtige Willenspräsenz neuer Eliten, die dem Willen der Willenlosen wieder aufhelfen könnten, an einem regnerischen Sommerabend die Fusion von Merkur und Vanity Fair beschlossen wurde. Nur ein Trio namens Schmidt und Müller und Fischer insistierte auf normativem Universalismus, Sozialstaat und einer Weltgesellschaft nach dem Modell von Lennons ,Imagine'. Die drei stahlen sich kurz vor Mitternacht weinend aus dem Bunde.

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