: Das Rom des Ostens
Warum Istanbul die eindrucksvollste Stadt der Welt ist – und warum sie eine Renaissance erlebt. Anlässlich des Eurovision Song Contest: eine Liebeserklärung
VON DANIEL BAX
„Für Sie, meine Herren Städtebauer, in die Mappe: Silhouetten!“, diktierte der Architekt Le Corbusier seinen Schülern und Studenten, als er 1911 aus Istanbul zurückkehrte. Fasziniert war der französische Vater der modernen Architektur nicht nur von den traditionellen Holzhäusern, die damals noch das Stadtbild der osmanischen Metropole prägten, und von den luftigen Villen, den „Yalis“, die bis heute die Ufer des Bosporus säumen. In seiner „Voyage en Orient“ schwärmte er vor allem von dem grandiosen Panorama, das sich dem Betrachter bietet, wenn sich sein Boot, von der asiatischen Seite kommend, dem Hafen von Eminönü nähert.
Wie Rom erstreckte sich auch Istanbul einst über sieben Hügel. Heute, wo die Stadt aus allen Nähten platzt und immer weitere Vororte gebiert, dürften es wohl einige mehr sein. Von den meisten der traditionellen Holzhäuser ist kaum noch etwas übrig. Dafür drängen sich immer mehr Bauten auf engem Raum, sogar eine ganze Anzahl Hochhäuser ist dazugekommen.
Doch auch wenn das Goldene Horn bisweilen wie eine giftige Kloake stinkt und sich inzwischen zwei Brücken aus Stahl und Beton über den Bosporus spannen: Das Panorama ist im Grunde immer noch das gleiche wie zu Zeiten des ausgehenden Osmanenreichs, als Le Corbusier die Stadt besuchte. Die markantesten Punkte bilden nach wie vor die Minarette der großen Moscheen, der Topkapi-Palast, der von sattem Grün umgeben auf seinem Hügel thront, und, auf der anderen Seite des Goldenen Horns, der Galata-Bezirk mit seinem gleichnamigen Turm. Und am schönsten ist die Stadt noch immer vom Wasser aus gesehen, wenn man auf der Fähre zwischen den Kontinenten pendelt, fernab von dem Trubel und Lärm am Ufer.
Nur wenige Städte warten mit einer vergleichbar beeindruckenden Skyline auf – allenfalls New York und Hongkong können da mithalten. Doch sie blicken nicht auf eine vergleichbar lange Historie zurück. Wie Rom und Jerusalem war auch das einstige Rom des Ostens, die einstige Hauptstadt des Oströmischen Reichs, über Jahrhunderte hinweg das geistige Zentrum einer Weltreligion – zunächst der christlichen, dann des Islams. Nach der Eroberung durch die Osmanen im Jahre 1453 errichteten diese auf den Katakomben und Zisternen von Byzanz, das bis zu seinem Untergang selbst immerhin schon tausend Jahre Bestand gehabt hatte, ihre neue Kapitale. Als Hauptstadt ihres expandierenden Großreichs blieb Istanbul – wie Paris und London – bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein der Nabel einer imperialen Macht.
Schon immer hat die Stadt ihre Besucher fasziniert. Und nur wenige Schriftsteller konnten es lassen, ihre Begeisterung auch in Worte zu fassen, von den frühen Orientreisenden aus Europa bis hin zu den Autoren der Gegenwart. Für die meisten europäischen Reisenden war Istanbul mit seinen schwülen türkischen Bädern und den verborgenen Reizen seiner Haremsdamen der Inbegriff des magischen Orients.
Moderne türkische Schriftsteller wie Nazim Hikmet, Orhan Veli oder Yasar Kemal haben dagegen meist das Hohelied der Polyphonie der Stadt gesungen, ihre kulturelle Vielfalt hervorgehoben und die vielen Gesichter ihrer Menschenlandschaften beschrieben.
Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass mit Le Corbusier auch einer der Begründer der modernen Architektur in seinen Memoiren vor allem der vergangenen Größe und dem verlorenen Glanz Istanbuls nachweinte: Dem Anbruch der Moderne in Gestalt der Jungtürken, die zum Zeitpunkt seiner Orientreise 1911 die politische Szenerie des Osmanischen Reichs betraten, sah Le Corbusier mit einer gewissen Skepsis entgegen. Die Verwestlichung des Landes empfand er als Verlust. Wie so viele Europäer vor ihm suchte und idealisierte er das Fremde und das vermeintlich Ursprüngliche. „Vor einiger Zeit, bei den süßen Wassern Europas am entlegenen Ende des Bosporus, hörte ich das Jammern zahlloser Grammophone auf den Booten, die im Wasser plätscherten. Und ich begriff, dass Abdülhamid tot war und die Jungtürken angekommen waren, dass der Basar sein Gesicht veränderte und der Westen triumphierte. Eine weitere jahrhundertealte Zivilisation geht den Bach herunter“, schrieb er 1925 wehmütig in seinem Buch „L’Art décoratif d’aujourd’hui“.
Doch die Modernisierer der Türkei hatten andere Pläne: Sie wollten das Land mit schnellen Schritten ins Industriezeitalter führen und Anschluss finden an die weltweite Entwicklung. Als das türkische Parlament 1923 Ankara zur neuen Hauptstadt der frisch proklamierten Republik erklärte, war das nur konsequent. Denn nach der Überzeugung des Republikgründers Mustafa Kemal, des Helden des Befreiungskriegs und selbst im heute in Griechenland liegenden Saloniki geboren, konnte Istanbul mit seinen vielen Moscheen und den Palästen seiner ehemaligen Sultane nicht die neue Republik repräsentieren.
Ankara stattdessen, mitten im kargen anatolischen Kernland gelegen, sollte den nüchternen Charakter der neuen Nation spiegeln: Nach den Prinzipien von Rationalität und Funktionalität wurden dort Plätze, Straßen und Amtsgebäude angelegt. Beeinflusst vom Bauhaus-Stil, den deutsche und andere europäische Architekten in den Dreißigerjahren in die Türkei brachten, wurde Ankara zur Hauptstadt einer türkischen Moderne ausgebaut. Der Bedeutungsverlust versetzte Istanbul einen empfindlichen Schlag. Fortan gab Ankara den Ton an: Als Sitz der Regierung und des staatlichen Fernsehens bildete es die politische Bühne, und seine Bürokraten, Minister und Militärs fällten die wichtigen Entscheidungen. Istanbul blieb die Hauptstadt des Handels, der Zeitungen und des türkischen Kinos.
Doch der Nationalismus ließ die Stadt kulturell verarmen. Auf das tragische Los der Armenier während des Ersten Weltkriegs folgte – nach Gründung der Republik und noch einmal in den Fünfzigerjahren – der Exodus der meisten Griechen. Und auch die große jüdische Gemeinde, die 1492 – von den katholischen Eroberern Andalusiens vertrieben – am Bosporus Zuflucht fand und noch bis heute den alten, spanisch geprägten Ladino-Dialekt pflegt, schrumpfte zuletzt auf einen kleinen Rest zusammen. Dafür kamen seit den Sechzigerjahren, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben, immer mehr Zuwanderer aus dem ländlichen Anatolien nach Istanbul und veränderten ihrerseits das Gesicht der Stadt.
Erst mit der wirtschaftlichen Öffnung der Türkei seit den späten Achtzigerjahren erlebte Istanbul wieder einen Aufschwung. Als 1986 in Istanbul die erste McDonald’s-Filiale am Taksim-Platz, dem kommerziellen Nabel der Stadt, öffnete, wurde das noch als echtes Ereignis wahrgenommen. Mit der wirtschaftlichen Liberalisierung unter Turgut Özal, dem ersten bürgerlichen Ministerpräsidenten nach dem Militärputsch von 1980, kamen immer mehr luxuriöse Shoppingmalls, Benneton- und Pizza-Hut-Filialen sowie andere globale Firmen nach Istanbul.
Gleichzeitig entwickelte sich die Stadt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wieder zur Drehscheibe eines regen Ost-West-Handels, der japanische Unternehmer ebenso anzog wie ganze Reisebusse aus Russland. Zudem besitzt Istanbul seit je eine kosmopolitische Oberschicht, die meist in den USA oder Europa studiert hat und absolut westlich orientiert ist. Diese Yuppies mit Bürgersinn haben dem alten, europäisch geprägten Bohemeviertel von Beyoglu neues Leben eingehaucht. Dessen Hauptstraße, die Istiklal Caddesi, galt in ihren schwärzesten Zeiten in den Siebzigerjahren noch als No-go-Area, in der sich tagsüber die Autos stauten und sich nachts bewaffnete Banden Schießereien lieferten. In den Achtzigerjahren wurde die Straße verkehrsberuhigt. Seitdem bahnt sich eine nostalgische Straßenbahn bimmelnd ihren Weg durch die bunte Menschenmenge, die hier in immer neue Boutiquen und Buchläden, Bars und Cafés, Restaurants und Clubs strömt.
Die Kehrseite dieses Aufschwungs ist eine Bevölkerungsexplosion, verstärkt durch Landflucht und den Kurdenkonflikt der Neunzigerjahre. Die Einwohnerzahl von Istanbul schwankt laut Schätzungen zwischen 12 und 18 Millionen. Zu den Klagen über die gestiegene Umweltbelastung, mit der alteingesessene Einwohner von Istanbul schnell bei der Hand sind, kommt jene über eine angebliche „Verdörflichung“ durch die Neuankömmlinge.
Ganz sicher steht auch der Aufstieg der islamischen Bewegung in Zusammenhang mit dieser Entwicklung, schließlich rekrutiert sie ihre Wählerschaft zu einem großen Teil aus den neuen Vororten. Als die islamistische Partei in den Neunzigerjahren erstmals das Rathaus eroberte, befürchtete man in Istanbul das Schlimmste: ein Alkoholverbot in den Kneipen von Beyoglu, dem noch immer beliebtesten Ausgehviertel der Stadt, oder gar den Bau einer Moschee am Taksim-Platz, dem symbolischen Herzen der säkularen Türkei.
Inzwischen ist der ehemalige Bürgermeister der Stadt, Tayyip Erdogan, sogar zum Ministerpräsidenten des Landes aufgestiegen, doch von solchen Plänen scheint nicht viel geblieben. Die einzigen Orte, die die neue, islamisch orientierte Stadtverwaltung in ihrem Sinne umgekrempelt hat, sind die öffentlichen Parks, Einrichtungen und Restaurants, die ihr direkt unterstehen. Ein solcher Ort befindet sich auf dem Berg Camlica, wo auch die Fernsehmasten stehen. Auf der asiatischen Seite gelegen, hoch über den Dächern von Istanbul, gibt es hier ein Ausflugslokal mit Terrasse, von der man einen atemberaubenden Blick auf die unten liegende Stadt hat, auf die gesamte Meerenge bis hin zur Marmarasee.
Aus der Entfernung wirkt die Stadt wie eine Miniatur, und die tonnenschweren Frachter im Bosporus gleichen kleinen Papierschiffen. Türkische Hochzeitspaare kommen hierher, um sich vor diesem Panorama fotografieren zu lassen. Als die islamische Stadtverwaltung ihr Amt antrat, ließ sie Alkohol und Cola von der Speisekarte streichen.
Stattdessen gibt es hier nun Tee und Nescafé, und alte Mütterchen backen anatolische Pfannkuchen für die Gäste. Eingefleischte Säkularisten reagierten verärgert auf diesen Wandel. Dabei bildet er nur eine Marginalie. Alle Versuche, der Stadt einen einheitlichen Stempel aufzudrücken, und sei es ein islamischer, laufen in Istanbul ins Leere: Die Stadt bietet genug Raum für tausendundeinen Lebensstil.
DANIEL BAX, 33, ist Redakteur im Kulturressort der taz. Einmal im Jahr reist er nach Istanbul, um die Aussicht und das Essen zu genießen