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■ Das PortraitJerzy Kanal

Es ist nicht Jerzy Kanals Schuld, daß ihn in Berlin fast niemand kennt. Dabei saß er 30 Jahre in der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde und zwanzig Jahren im Vorstand. Über zehn Jahre lang war er gar einer der drei gewählten Stellvertreter des Vorsitzenden Heinz Galinski. Aber dies war in dessen Amtszeit nicht unbedingt ein Ausweis für Kompetenz, mehr für Treue und unerschütterliches Beharrungsvermögen. Als Galinski am 19. Juli starb, übernahm der 70jährige Rentner die kommissarische Leitung der Gemeinde und führte die Arbeit mit großem Taktgefühl fort. Es war anrührend zu sehen, daß Jerzy Kanal sich bis über die 30tägige Trauerzeit hinweg niemals an Heinz Galinskis großen Schreibtisch setzte, sondern all die Telefonate und Gespräche von einem unbequemen Hockerchen aus führte.

Foto: R. Liebman/Ghost

etzt ist Jerzy Kanal von der Repräsentantenversammlung selbst zum Interimsvorsitzenden der mit über 9.000 Mitgliedern größten jüdischen Gemeinde Deutschlands gewählt worden. „Ich bin in die Pflicht genommen worden, damit die Kontinuität nicht unterbrochen wird“, sagt er. Dieser Satz ist programmatisch gemeint, aber schwer zu verwirklichen. Heinz Galinski war Politiker, 24 Stunden am Tag. Er habe Auschwitz nicht überlebt, um zu den Vorgängen in Deutschland zu schweigen, wiederholte er immer wieder. Auch Kanal hat Auschwitz überlebt, aber „ich kann mich nicht zu jeder Sache zu Wort melden“, sagt er. Letzte Woche saß er im Präsidium der Internationalen Konferenz über Antisemitismus in Berlin und schwieg. Über Rostock sprachen andere. Daß der Artikel 16 nicht abgeschafft werden sollte, sagt er lieber im kleinen Kreis.

Kanal ist ein leiser, sehr freundlicher, aber ein für die Öffentlichkeit bequemer Mann. Sein Schwerpunkt ist die interne Gemeindearbeit, die will er „der Zeit anpassen“, also demokratisieren. Ob es ihm allerdings gelingt, die zahlreichen Intellektuellen außerhalb der Gemeinde wieder zu integrieren, ist fraglich. Denn Jerzy Kanal begründet keine neue Ära, er begreift sich selbst nur als „Übergangslösung“. Sein erklärtes Engagement gilt der Jugendarbeit.

Jerzy Kanal wurde 1921 in Polen geboren, besuchte bis 1939 ein Gymnasium in Warschau. Er wurde ins Ghetto gesperrt, nach Majdanek deportiert, nach Auschwitz geschleppt. Von seiner Familie überlebte niemand. Die letzten Terrormonate überstand er in Buchenwald, im KZ-Nebenlager Mittelbau-Dora und in Sachsenhausen. „Jeder hat seine Leidensgeschichte“, sagt er, „ich bin doch nur einer von vielen.“ Anita Kugler

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