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■ Das PortraitGerhard Wien

Foto: taz-Archiv

Er ist blind, der Thüringer Bürgerrechtler und Abgeordnete Gerhard Wien. Ehepartner einer Frau, die niemals von seiner Seite weicht, die ihm die Augen ersetzt und als seine Partnerin auch im Thüringer Landtag fast jeden Text für ihn liest oder schreibt. Er ist der Vater eines 25jährigen Juso-Funktionärs und einer 20jährigen Tochter.

Der Menschentyp ist schwierig einzuordnen. Er ist Altphilologe und Germanist, voll leiser, höflicher Ironie. Das Grundmuster des DDR- Bürgerbewegten verkörpert er nicht. Kein Rauschebart, keine gebündelte Rapunzelmähne – auch kein selbstgestrickter Pullover. Und nirgends der heilige Eifer, mit dem alles, was nicht der reinen, weil eigenen Lehre huldigt, zu Boden gestreckt wird.

Wien ist in der Lutherstadt Eisleben geboren. Wie steht der Mensch und seine Kirche zu den Grundüberzeugungen, zu den Befindlichkeiten, die die lutherische Kirche erst ausmachen? Die Stille antiker Philosophenschulen ist ihm näher als der dröhnende Reformator. Er studierte alte Sprachen, war aktives Mitglied der Studentengemeinde, dann Lehrer.

Schließlich das große deutsche Wenden. Er brauchte es nicht nachzuvollziehen. Er hatte schon zuvor für eine „Demokratie Jetzt“ gestritten, sie schließlich mitgegründet. Menschen wie ihm ist es geschuldet, daß die historische Leistung des 89er Herbstes nicht in Blut und Gewalt versank. Doch während sich die meisten der damaligen Weggefährten dem Rausch der spontanen Popularität hingaben und fast immer so verständlich wie dilettantisch die eben erst errungene Macht schon wieder verloren geben mußten, ging Wien zu den Mühen der Ebene über.

Dort weilt er heute noch. Ein kühler Beobachter, der so vieles besser durchschaut als die meisten Sehenden. Er ist eines der wenigen politischen Talente im Lande. Vernichtend sind seine wachsamen Erwiderungen gegenüber allen Versuchen belasteter Politiker, für ihr Versagen Komplizenschaft unter den Menschen herbeizureden.

Kompetent ist seine Arbeit im bildungspolitischen Ausschuß, und menschlich, wie der ganze Mann, ist seine Haltung zur Evakuierung der einstigen Lehrerkollegen. Er ist auch voller Sorge über die Zukunft seiner Bürgerbewegungen. Deren sterile Debatten irritieren und empören ihn zunehmend. Angriffsflächen? Zuviel Sensibilität. Ein starker, zerbrechlicher, ein mitleidender Mensch. Henning Pawel

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