Das Portrait: Enfant terrible
■ Edgar Hilsenrath
Heute wird er 70, der passionierte Kaffeetrinker, Verehrer aller Frauen, der Mann, der die Baskenmütze nur im Bett abnimmt und Romane schreibt, die atemlos machen. Weil einem das Grauen im Hals stecken bleibt, weil man sich an der grotesken Form verschluckt. So wie Hilsenrath traute sich niemand zuvor den Holocaust zu beschreiben: brutal und absurd. „Wie die rohen Eier wurden die Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur behandelt“, sagte er und zerschlug sie. Seinen ersten Roman über das rumänische Ghetto auf ukrainischem Boden, Moghilew Podolsk, „Nacht“, traute sich der Verlag erst 1964 zu drucken, nachdem er in den USA und England erschienen war.
Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath Foto: Erik-Jan Ouwerkerk
In diesem Ghetto mußte Hilsenrath, den seine Eltern aus Furcht vor den Nazis 1938 aus Halle zu den Großeltern in die Bukowina geschickt hatten, versuchen, zu überleben. Von 1941 bis 1944. „Es war ein Kampf jeder gegen jeden.“ Sein zweiter Roman, „Der Nazi und der Friseur“, erzählt die Geschichte eines SS-Massenmörders, der unter dem Namen eines von ihm getöteten Jugendkameraden Karriere macht.
Seinen 70. Geburtstag feiert Hilsenrath, der mit seinen drei letzten Parabeln „Bronskys Geständnis“ (1980), „Das Märchen vom letzten Gedanken“ (1989) und „Jossel Wassermanns Heimkehr“ (1993) ein viel gelesener Schriftsteller wurde, im Literarischen Colloqium von Berlin. Sein jüngstes Buch wird vorgestellt. „Die Abenteuer des Ruben Jablonski“ heißt es, und beschrieben werden darin die Abenteuer von Edgar Hilsenrath. Der Zufall, im Ghetto nicht gestorben zu sein; der Fußmarsch nach der Befreiung durch ganz Bessarabien bis nach Bukarest; die Eisenbahnfahrt durch die Türkei und den Libanon nach Palästina; der jüdische Aufstand gegen die Engländer; und die Fahrt nach Frankreich, wo er seine Eltern wiederfand. Die „Abenteuer“ von Ruben Jablonski enden 1951, mit der Auswanderung in die USA.
Getippt hat Hilsenrath alle seine Bücher mit vier Fingern auf einer uralten Schreibmaschine. Vielleicht wird er auf dieser auch die Fortsetzung von Ruben Jablonskis Leben schreiben. Das Kellnern in Cocktailbars, das frühmorgendliche Schreiben in Cafeterias, die Mißverständnisse mit amerikanischen Frauen, die man nicht einfach traf, sondern „ausführen mußte“, und endlich, 1975, die Rückkehr nach Deutschland. Nach Berlin. Anita Kugler
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