: Das Politische im Unpolitischen
Reizvolle Feuilletons des Publizisten Sebastian Haffner aus den Jahren 1933 bis 1958, fragwürdig ediert: „Das Leben der Fußgänger“
VON ANDREW JAMES JOHNSTON
Das wohl perfideste Machtinstrument der Nazis war die scheinbare Normalität des Alltags, waren die vielen großen und kleinen Freiräume, etwa auf der Kinoleinwand, wo man nicht mit „Heil Hitler“ grüßte, sondern mit „Guten Tag“. Da fiel es leichter, einfach wegzuschauen oder darauf zu vertrauen, dass es so schlimm schon nicht kommen würde.
Einer von denen, die darauf nicht hereinfielen, war Sebastian Haffner. Dennoch strickte auch er aktiv am Schein dieser Normalität mit. Dies zeigt „Das Leben der Fußgänger“, eine Sammlung von Feuilletons, die Haffner von 1933 bis zu seiner Emigration 1938 für diverse Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Der Doktorand Jürgen Peter Schmied hat die zum Teil unveröffentlichten Texte bei Recherchen für seine Haffner-Dissertation gefunden und sie jetzt herausgegeben. Der Band ist so hübsch wie die Haffner’schen Preziosen, aus denen er besteht – reizvolle Plaudereien über Zigaretten und Telefone, fremde Scheidungssitten und Filmhelden. Und genau das ist das Problem. Denn obwohl Haffner wie immer scharf beobachtet und brillant formuliert, hat der Leser stets das Gefühl, als fehlte etwas. Dieses Etwas ist der Zeitbezug, präziser: der zunehmende Ekel, den Haffner in seinen Memoiren so beklemmend darstellte. Davon spüren wir in den Texten des neuen Bandes nichts.
Nur wer sehr genau hinschaut, erkennt zwischen den Zeilen die eine oder andere Anspielung, besonders in jenen Artikeln, die Haffner nicht veröffentlichte, vielleicht weil keine Chance bestand, dass sie gedruckt würden, vielleicht auch, weil ihr Druck ihm hätte schaden können. Denn Haffner lebte in einer Beziehung zu einer Frau, die nach nationalsozialistischen Kriterien als Jüdin galt. Leider hüllt das wenig erhellende Nachwort des Herausgebers diesen Punkt in eigentümliche Wolkigkeit und erklärt die Emigration Haffners und seiner Partnerin mit „politischen und privaten Gründen – wobei Letztere wohl ausschlaggebend waren“. Mit einer Jüdin liiert zu sein war unter den Nazis keine Privatsache. Warum verschleiert der Herausgeber dies? Vielleicht, weil dann das Abgründige dieser Texte allzu sehr ans Tageslicht getreten wäre, nämlich die geistreich-heitere Belanglosigkeit, mit der sie dazu beitrugen, dem ständigen Ausnahmezustand der Nazidiktatur den Anschein des Normalen zu geben.
Auch die Präsentation der Artikel verleiht ihnen keinerlei zeithistorische Relevanz. Der Herausgeber ordnet sie mithilfe betulich klingender Kategorien wie „Wunder des Alltags“, „Tücken der Technik“, „Kurioses und Skurriles“. Weil auf eine chronologische Reihenfolge verzichtet wird und Erscheinungsorte und -daten erst in den Anmerkungen erwähnt werden, lassen sich die Einzeltexte bei der Lektüre nur schwer in einen Zusammenhang stellen.
So geht der faszinierendste, weil zwiespältigste Text der Sammlung in der eklatant nichts sagenden Rubrik „Es war einmal …“ fast unter. Im August 1933 berichtete Haffner in der Vossischen Zeitung von der Wiederaufführung des nur vier Jahre alten Stummfilms „Fräulein Else“. Der Film dient ihm als Aufhänger für eine Globalkritik der Weimarer Kultur, als Symptom für das angeblich Krankhaft-Fiebrige jener Epoche. Überall zeige sich die Dekadenz, im dargestellten Milieu, in den schlaffen Figuren, der nervösen Aura der Hauptdarstellerin, ja sogar in der für den Stummfilm so typischen visuellen Virtuosität. Aber, so schließt Haffner, inzwischen habe das Bürgertum seine Todessehnsucht abgeschüttelt, weshalb der Film nicht die ganze Wahrheit des Jahres 1929 schildere: „Wir stellen es aufatmend fest, aber zugleich mit der tiefen Beklemmung des Reiters, der erfährt, dass er über den Bodensee geritten ist.“
So entschieden sich Haffner zu äußern scheint, so zweideutig bleibt sein Urteil. Imitiert er hier mit eilfertiger Verächtlichkeit das kulturkritische Vorbild der neuen Herren oder fordert er das Bürgertum auf, sich auf seine ethischen und politischen Tugenden zu besinnen, um sich der Diktatur doch noch entgegenzustemmen? Aus heutiger Perspektive kann diese Frage nicht mehr beantwortet werden. Haffner selbst hätte es damals womöglich auch nicht gekonnt. Der vorliegende Band aber tut sein Bestes, um zu verhindern, dass sie überhaupt gestellt wird.
Sebastian Haffner: „Das Leben der Fußgänger. Feuilletons 1933–1938“. Hanser Verlag, München 2004, 398 Seiten, 23,50 Euro