■ Das Phänomen Luther: Versäumnis-Senator
Luther ist ein Phänomen. Kaum einer in der Senatorenriege hat so viele Pannen und Pleiten erlebt, doch Konsequenzen mußte er nie ziehen. Fast könnte man meinen, der einzige CDU-Senator aus dem Osten habe Narrenfreiheit. Das Markenzeichen des Immunologen ist politische Naivität. Mal äußerte er sich mißverständlich über „gute Diktaturen“, mal hielt er seine Tätigkeit für die Blockflöten-CDU für so unbedeutend, daß er sie im Lebenslauf für das Abgeordnetenhandbuch nicht angab. Daß es Luther an politischem Instinkt mangelt, legt auch die jüngste Episode nahe: Da wird einer von einem Stasi-Offizier aufgesucht und merkt es nicht einmal.
Luther, der Ahnungslose, dürfte als der Versäumnis-Senator in die Berliner Annalen eingehen. Eher zögerlich machte er sich daran, die Doping-Praktiken von DDR-Ärzten und den Stasi-Einfluß auf die Psychiatrie zu ahnden. Die Psychiatriereform, die 1.500 Klinikbetten durch ambulante Versorgung ersetzen soll, kommt seit anderthalb Jahren nicht voran. Und noch im Dezember 1991 verkündete er, daß es auch in 20 Jahren noch Polikliniken geben werde. Hut ab vor soviel Weitblick. Bekanntlich gelang es Luther nicht, den Niedergang der Polikliniken aufzuhalten.
Doch all dies tut seiner Beliebtheit im Osten kaum Abbruch. Senator Luthers Geheimrezept: er ist ein total netter Mensch. Bei den Wahlen im Oktober holte er als einziger CDU-Politiker in seinem Wahlkreis Weißensee ein Ostberliner Direktmandat. Aller Voraussicht nach wird er zwar wegen der Verkleinerung des Senats nicht in seinem Amt bleiben, doch eindeutig hat sich die CDU dazu bis heute nicht geäußert. Dorothee Winden
Siehe Bericht Seite 22
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen