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Archiv-Artikel

Das No-go-Eiland

AUS AJACCIO DOROTHEA HAHN

Sechs kreisrunde Einschusslöcher in der Scheibe zeugen vom jüngsten Angriff. Das ebenerdige Fenster ist mit dicken Teppichen verhängt. Sie versperren den Blick auf den großen Saal. Und sie schützen die Gläubigen, die sich dort zum Beten versammeln, gegen weitere Schüsse.

Wann es passiert ist? Schulterzucken. Die Männer, die auf dem Weg zum Abendgebet sind, haben von vielen hässlichen Dingen gehört: Gerade in der Nacht ist wieder „Arabi fora“ – Araber raus – an die Wand des marokkanischen Konsulats gesprüht worden. Davor ist Sprengstoff am Auto eines Diplomaten explodiert. Davor war das Haus eines Nordafrikaners in Flammen aufgegangen – Brandstiftung. Wer erinnert sich da schon an ein paar Schüsse in das Fenster der Moschee im Gewerbegebiet der korsischen Hafenstadt Ajaccio? Zumal sie folgenlos blieben. Auch der Sprengsatz, der im vergangenen Jahr ein großes Loch in die rückwärtige Mauer geschlagen hatte, ist längst vergessen.

„Korsika ist speziell“, sagt ein junger Muslim. Er trägt Palästinensertuch und ein hauchdünnes Bärtchen. „Auch Korsen haben manchmal eine Bombe vor dem Haus“, fügt er hinzu. Seinen Namen will er nicht nennen, er kneift nur die Lippen fest zusammen. Die Geste heißt im Korsischen „zugenähter Mund“. Oder: „Schweig. Das erspart Ärger.“

Rund 20.000 Einwanderer aus Nordafrika leben auf der französischen Ferieninsel, die ersten kamen in den Sechzigerjahren. Die meisten stammen aus Marokko. Sie arbeiten auf dem Bau, in der Landwirtschaft und im Tourismus. Und sie befinden sich im Visier von aggressiven Rassisten. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres zählte die Regierung in Paris 30 Anschläge auf der Insel – ein Drittel aller erfassten rassistischen Gewaltakte in Frankreich.

„Arabi fora“ – Araber raus

Es gab Sprengstoffattentate auf Geschäfte, auf Autos und auf Wohnungen. Mehrfach traten Untergrundorganisationen mit Morddrohungen an die Öffentlichkeit. Korsika gehöre dem korsischen Volk, erklärten sie. Die Araber sollten verschwinden, andernfalls drohe ihnen „physische Eliminierung“. Solche Feindseligkeiten gegen Einwanderer gibt es nirgends sonst in Frankreich.

Angesichts der Welle von Gewalt verlässt so manche Familie die Insel. In den letzten Wochen sind verstärkt Marokkaner aus Korsika in Nîmes, im Süden Frankreichs, angekommen. Nachdem sie auf der Insel jahrzehntelang „Araber“ gerufen wurden, heißen sie jetzt, auf dem Festland, „Korsen“. Sie sprechen Französisch mit demselben Singsang wie die Leute, die sie vertrieben haben.

Vor der Moschee im Gewerbegebiet von Ajaccio ist Rassismus das Hauptthema. „Echte Korsen tun so etwas nicht“, ist ein Gärtner überzeugt. „Wer sich anständig benimmt, hat keine Probleme“, versichert ein alter Mann, der Straßenkehrer war. Ein junger Lastwagenfahrer poltert dazwischen: „Ein Araber ist hier eine Fliege.“ Seiner Frau, erzählt er, werde auf der Straße immer wieder das Kopftuch weggerissen. Ein Rentner nickt traurig. „Solange wir arm waren und mit gebeugtem Kopf gingen, haben sie uns toleriert“, sagt er. „Aber jetzt tragen wir Hosen mit Bügelfalten wie sie. Das ertragen sie nicht.“

Mohamed Salmi, ein marokkanischer Soziologe, hat den diesjährigen Fastenmonat Ramadan auf Korsika verbracht und Gesprächskreise mit Gläubigen veranstaltet. Immer wieder stieß er dabei auf die Enttäuschung von Einwanderern über ein Land, „das sie nicht liebt“. Über die Gründe rätselt er: „Vielleicht ist Korsika so rückständig, weil es eine isolierte Insel ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Einwanderer einfache Arbeiter sind, von denen manche weder lesen noch schreiben können.“ Die Gläubigen hat er aufgefordert: „Integriert euch. Seid höflich. Sagt lieber einmal zu oft Pardon, als einmal zu wenig.“

„Ava basta“ – jetzt reicht’s

Nordafrikaner auf Korsika sind schon in den Achtzigerjahren Opfer einer Gewaltwelle gewesen. Damals war der Schlachtruf der Rassisten versteckter als heute. Er lautete: „Droga fora“ – Drogen raus. Aber alle verstanden, was gemeint war. Binnen fünf Jahren wurden mehr als zehn Nordafrikaner aus rassistischen Motiven ermordet. 1986 gründeten Menschenrechtler deshalb die Organisation „Ava Basta“ – jetzt reicht’s. Danach ging die Gewalt zurück.

Die Arbeit ist nicht ausgegangen. Im „Ava Basta“-Ladenlokal in der Altstadt von Ajaccio warten Einwanderer auf Rechtsberatung. Das Telefon klingelt ständig. Am Abend zuvor haben zwei junge Männer auf einer Straße miteinander gestritten. Es ging um ein Mädchen. Jetzt liegt einer mit einer Stichwunde im Krankenhaus, der andere wird von der Polizei gesucht. Das Opfer stammt aus einer korsischen Familie, der Täter aus einer Einwandererfamilie.

„Das war ein Angriff auf das korsische Volk“, ereifert sich eine Anruferin: „Antikorsischer Rassismus.“ Andere verlesen korsische Texte und legen auf, ohne ihren Namen zu nennen. „Für die kleine rassistische Minderheit ist diese Messerstecherei eine goldene Affäre“, sagt Ava-Basta-Präsidentin Noëlle Vincensini. Sie ist auf Korsika ein lebendes Denkmal. Als junge Frau hat sich Vincensini im Zweiten Weltkrieg hat gegen die deutschen Besatzer gewehrt und wurde ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Mit 78 Jahren ist sie nun die Symbolfigur des Kampfs gegen Rassismus. Im Oktober hat Vincensini zusammen mit der „Menschenrechtsliga“ die erste große antirassistische Demonstration in Ajaccio auf die Beine gestellt. Sämtliche Gruppen auf der Insel fühlten sich verpflichtet, Vertreter zu schicken. Trotzdem ist sie unglücklich darüber, dass Korsika in französischen Medien als ausländerfeindlich dargestellt wird. „Natürlich gibt es hier Rassismus“, sagt sie, „aber nicht mehr als anderswo.“

Längst nicht jeder Gewaltakt gegen Nordafrikaner hat rassistische Motive. Manchmal stecken mafiose Machenschaften dahinter. Manchmal Sozialneid. Die Gewaltkultur ist eine korsische Eigenheit. Alle möglichen Konflikte werden mit Sprengstoff geregelt, private genauso wie politische. Zu Letzteren gehört der „bewaffnete Kampf“, den seit den 70ern immer neue Untergrundorganisationen gegen Frankreich führen. Manche dieser oft winzigen Gruppierungen verlangen mehr Autonomie, andere die totale Unabhängigkeit der 260.000-Einwohner-Insel. Auf das Konto dieser selbst ernannten Befreiungskämpfer gehen Bombenanschläge, Morde und die Hassparole „IFF“, die auf vielen Mauern steht. Die drei Buchstaben stehen für: „I francesi fora“ – Franzosen raus. Sie bereiteten das Terrain für die antiarabischen Parolen.

Präfekt Pierre-René Lemas, der höchste Vertreter der Regierung in Paris, ist seit einem Jahr auf der Insel. Sein Amtssitz im Zentrum von Ajaccio ist streng bewacht. Auf der großen Freitreppe liegt ein Kranz für einen seiner Vorgänger. Claude Erignac war am 6. Februar 1998 in Ajaccio auf offener Straße von Nationalisten ermordet worden. Lemas hat die Mittel für Einwanderer aufgestockt – für Unterbringung und für Alphabetisierungskurse. Er beteiligt sich an den Vorbereitungen für eine „Woche der Brüderlichkeit“ im Dezember. Zugleich warnt er vor Übertreibungen. „Beim Thema Korsika setzt leicht ein Lupeneffekt ein“, sagt er. „Ein paar Steinwürfe auf eine Gendarmerie werden da schon mal zu einer korsischen Intifada vergrößert.“ Der Präfekt stellt klar: „In ihrer Gesamtheit sind die Korsen nicht rassistisch.“ Aber es gebe auf der Insel eben „objektiv“ eine der höchsten Einwandererdichten Frankreichs.

François Sargentini, Sprecher der Gruppe „Corsica Nazione – Indipendenza“, die bei den Wahlen zum Regionalparlament 17 Prozent erhalten hat, wohnt auf 900 Meter Höhe im idyllischen Bergdorf Tralonca. Der Ort wurde bekannt, als eine nationalistische Untergrundorganisation an einem benachbarten Hang nachts eine martialische Pressekonferenz abhielt: 600 vermummte und schwer bewaffnete Männer marschierten auf, um zu zeigen, dass das „korsische Volk“ kampfbereit sei.

„Koffer packen oder bleiben?“

Sargentini versteht seinen französischen Pass als „provisorisch“. Er kämpft für die Unabhängigkeit. Die Zugeständnisse der vergangenen Jahre – Korsischunterricht an Schulen und die Verlagerung von immer mehr Kompetenzen aus Paris an das Inselparlament – gehen ihm nicht weit genug. Er verlangt zum Beispiel eine „Korsifizierung“ der Arbeitsplätze und will das keineswegs als „nationale Präferenz“ nach rechtsextremem Muster verstanden wissen, sondern „als Ausgleich“. Das korsische Volk werde im eigenen Land an den Rand gedrängt. „Von Franzosen vom Kontinent und von Einwanderern aus Nordafrika.“

Die Übergänge zwischen Nationalisten vom Schlage Sargentinis und Rassisten sind fließend. Im vergangenen Jahr schluckte Sargentinis Organisation eine bewaffnete Gruppe: „Resistenza Corsa“, die nach eigenem Eingeständnis zuvor rassistische Attentate verübt hatte. „Das war ein Fehler“, räumt Sargentini ein. Zugleich greift er die Forderung der Rassisten auf: Einwanderungsstopp für Korsika. Den bereits auf der Insel lebenden Einwanderern empfiehlt er, sich der korsischen Kultur anzupassen und Korsisch zu lernen.

Mit der Frage „Koffer packen oder bleiben?“ hat sich auch der ehemalige Leichtathlet und heutige Sicherheitsagent Mohamed Stitout befasst. Seine vorläufige Antwort: „Ich bleibe.“ Er sei in seinen 20 Jahren auf Korsika noch nie mit Rassismus konfrontiert gewesen, sagt der 32-jährige Marokkaner. Dass ihn junge Leute in der Disco als „Arabaccia“ – dreckigen Araber – beschimpft haben, ist für ihn ein „Alkoholproblem“. Die rassistischen Graffiti an den Mauern seiner Stadt ignoriert er. Er fühlt sich auf der Insel zu Hause, gar als Teil des „korsischen Volks“: „Schließlich lebe ich hier.“ Trotzdem ist Stitout überzeugt: Wenn die Spannungen anhalten, „wird es in drei bis fünf Jahren nicht mehr viele Araber auf Korsika geben“.