: Das Krisengespenst
FRIEDRICH KROTZ, geboren 1950 in Barcelona, ist seit Oktober 2003 Professor für Kommunikationswissenschaft und soziale Kommunikation an der Universität Erfurt. Zuvor lehrte er in Münster. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Medien- und Gesellschaftswandel. Zuletzt erschien sein Buch „Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation“.
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hätte?“
So schreiben Friedrich Engels und der neuerdings wieder viel zitierte Karl Marx im Vorwort zum „Kommunistischen Manifest“ über das Gespenst ihrer Zeit, den Zusammenschluss der Arbeiter, dessen Erfolg er sich erhoffte. Das Gespenst von heute ist die sogenannte Finanzkrise.
Im Gegensatz zu Marx’ Gespenst von damals ängstigt es vor allem die Arbeiter und Angestellten, und erst recht die, die am Rande der Gesellschaft leben, hier oder in der Dritten Welt. Denn ihnen droht, so heißt es, Arbeitslosigkeit, Konsumverzicht und das Ende jeder Gesundheits- und Sozialpolitik. Auch wenn die Medien beharrlich über die Folgen schweigen – den Steuerzahlern dämmert allmählich, dass sie auf Jahrzehnte hinaus die unglaublichen Gelder werden abtragen müssen, die der Staat in das marode Bankensystem pumpt. Längst nicht so sehr ängstigt die Krise die Kapitalisten und Couponschneider, die Heuschrecken und Finanzierungsgenies, obwohl doch sie es waren, die zahlreiche Volkswirtschaften in den Ruin getrieben haben. Die die hart erarbeiteten Überschüsse der Völker der Welt in sinnlosen Spekulationen verbrannt und in irrwitzige Boni für sich selbst verwandelt haben. Das Übernachten unter der Brücke, die Teilnahme an einer Fernsehshow „Wie überlebe ich als Obdachloser in der Großstadt“ ist für sie nicht vorgesehen.
Das Verstörende an dieser Krise ist, dass sie bisher vor allem an den riesigen Geldbeträgen erkennbar wird, über die die Regierungen ganz plötzlich zu verfügen meinen und die die Krise eigentlich eindämmen sollen. Niemand weiß, was genau die Bedrohung ist, und erst recht nicht, welche Dimension und welches Ausmaß sie hat – eine tragfähige Analyse gibt es ebenso wenig wie eine begründete Strategie. Ist die Krise vielleicht vor allem ein Alibi dafür, Leute zu entlassen, Lohnforderungen abzublocken und Fehlspekulationen mit Steuergeldern auszugleichen? Sind vielleicht gar die gigantischen Rettungsmaßnahmen selbst die eigentliche Krise? Die Finanzberater empfehlen jedenfalls bereits wieder, Aktien und insbesondere Bankaktien zu kaufen, und auch das Karussell der Leerverkäufe hat wieder eingesetzt – das ideale Mittel, um aus den Verlusten anderer Kapital zu schlagen.
Die Krise soll entstanden sein, weil Grundstückskäufer ihre Schulden nicht bezahlen konnten. Warum aber, so eine der Fragen, über die Medien und Regierung hinweggehen, warum werden dann die Banken mit Geld gefüttert und nicht die Familien und Haushalte, die ihre Kreditzinsen nicht mehr bezahlen können? Dann bekäme das Banksystem Geld, und zugleich würden Eltern und Kinder nicht aus ihren Häusern gejagt.
Vermutlich würde dann allerdings deutlich werden, dass die sogenannten faulen Kredite nicht mehr als ein kleiner Auslöser der Krise waren. Es waren ja auch nicht die Kunden von Ratiopharm, die die Merckle-Gruppe in die Schieflage gebracht haben. Es waren vielmehr die gigantischen Spekulationen mit VW-Aktien, für die Merckle bezahlen musste und an denen vor allem Porsche verdient hat. Die Krise, wenn es denn eine ist, ist das Resultat von Spekulation und Gier, von Gewinnsucht und Maßlosigkeit, von überzogenen Marketingmaßnahmen und Überredung, von Betrug und Kasinokapitalismus. Wenn es eine Krise ist, dann war es vielleicht zunächst eine der Banken, jetzt ist es eine des Kapitalismus.
Denn wenn die Banken jetzt kein Geld mehr verleihen, obwohl sie könnten, ist das das Ergebnis eines Lernprozesses. Sie haben verstanden: Wenn im Kapitalismus jemand freundlich zu dir ist, pass auf deine Brieftasche auf. Die Ostdeutschen mussten diese bittere Lektion nach der deutsch-deutschen Vereinigung lernen. Wer dir einen Kredit anbietet, will vor allem deine Zinsen, auch wenn du bankrottgehst. Wer dir Wertpapiere verkauft, legt dich rein, selbst wenn das von Bank zu Bank stattfindet. Vertrauenskrise? Nein. Die Angst vor dem andern ist im konsequenten Kapitalismus angelegt, und sie ist jetzt in seinem Zentrum, dem Bankensystem, angekommen. Das Misstrauen der Banken gegen ihre Kunden und das Misstrauen der Kunden gegen die Banken ist ein strukturell begründetes Misstrauen aller gegen alle, auch gegen die gültigen Gesetze und Regeln. Deswegen ist die Krise eine Krise des Kapitalismus.
Dieses Misstrauen kann der Staat mit noch so vielen Milliarden nicht beseitigen. Dass er es versucht, wirft allerdings weitere Fragen auf. Deutschland hat ein funktionierendes staatliches Bankensystem. Es besteht flächendeckend und auf allen Ebenen aus kommunalen Sparkassen, staatlichen Landesbanken, der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Wenn es darum ginge, die „freie Wirtschaft“ mit Krediten zu versorgen, wäre dies darüber gut zu organisieren. Die staatlichen Banken müssten natürlich viel besser kontrolliert werden als bisher – vielleicht nicht von Politikern, sondern von Sparkunden. Warum muss der Staat dann die Privatbanken retten? Warum sollen die, die den Markt immer vergöttert haben, jetzt nicht mit diesem Markt glücklich untergehen dürfen?
Statt die Steuermittel gezielt und sinnvoll einzusetzen, transferiert die Regierung lieber die Steuern der nächsten Generationen in das marode private Bankensystem von heute. Im Namen der Marktwirtschaft wird so die Marktwirtschaft ruiniert. Statt der Vermögen der Banker werden die Verluste der Banken verstaatlicht und dadurch erst sozialisiert und den Steuerzahlern aufgebürdet. Dafür wird der Staat dann auch noch kritisiert. Nicht weil er kein Geld mehr haben wird für Umwelt, Infrastruktur, soziale Gerechtigkeit oder Bildung, sondern dafür, dass er für sein Geld ein wenig Kontrolle will und die aberwitzigen Gehälter zu begrenzen versucht. Aus Sicht der Wirtschaft: unverschämt und undankbar.
Das machen uns Tag für Tag die Medien klar. Sie berichten, was Bundeskanzlerin Merkel den Chefredakteuren und Verlagsdirektoren schon bei einem eigens einberufenen Treffen im vergangenen Oktober vorgesagt hat. Sie halten die Bürger bei Laune, auf dass diese stillhalten. Wie viel Geld bereits in die Banken gepumpt wurde, wie viele Milliarden Bürgschaftszusagen vergeben wurden (und wie viele Hartz-IV-Monats„löhne“ das sind), das steht auch nicht in der Zeitung. Die Süddeutsche (vom 15. 1.) beispielsweise versteckt die Mitteilung, dass die Hypo Real Estate zum vierten Mal in vier Monaten Milliarden Bargeld und Bürgschaften braucht, unter der Überschrift „Wenn Steinbrück an die Tür klopft“. Sorgen macht man sich hier nur um die Frage, ob der Staat nicht zu mächtig wird. Gewiss, eine wichtige Frage, aber wohl kaum die derzeit wichtigste. Während die Banker die Staatsknete abzocken, wird die Diskussion über den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu einer Diskussion darüber, ob der Staat denn nun Schulden machen darf oder nicht – unabhängig davon, wofür er sie macht.
Was also ist die Krise? Das Bankensystem hat sich selbst ruiniert, aber nicht weil es die Regeln des Kapitalismus verletzt hat, sondern weil es sie konsequent befolgt hat: Ziel war und ist nichts als Gewinn, soziale Verantwortung oder Ethik hin oder her. Ebenso wie der Staatssozialismus an sich selbst erstickt ist, haben sich die Banken damit in einem Meer von Geld selbst ertränkt und sich gegenseitig in die Pleite getrieben. Im Unterschied zum Staatssozialismus haben die Banken aber einen Weg gefunden, das Ende des Kapitalismus noch einmal in ein neues Aufblühen zu verwandeln. Denn zusammen mit den Medien sorgen sie dafür, dass sich die Struktur des Wirtschaftssystems nicht ändert, aber der Staat die Kosten trägt. Wie lange? Bis auch er pleite ist.
Damit fügt sich die derzeitige Bankenkrise aber in eine ganz andere Entwicklung ein. In den letzten Jahrzehnten ist der Anteil aus Vermögen und Unternehmertätigkeit am Bruttosozialprodukt kontinuierlich gestiegen, in der Bundesrepublik wie im Rest der Welt. Der entfesselte Kapitalismus hat getan, wofür er da ist, nämlich die Kapitalrenditen immer stärker in die Höhe getrieben und so die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter geöffnet. Der Anteil der Kapitalerträge am Volkseinkommen kann aber rein logisch nicht immer weiter wachsen: Wenn das, was Arbeiter und Angestellte vom Bruttosozialprodukt bekommen, zum Leben immer größerer Teile der Bevölkerung und zur Legitimation nicht mehr ausreicht, dann können die Gewinne nur noch zunehmen, wenn der Staat seine Steuergelder an die Banken und Unternehmen transferiert. Genau das erzwingt und legitimiert die derzeitige „Vertrauenskrise“.
Erhalt der Arbeitsplätze und der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, das waren und sind die Argumente, warum Lohnforderungen nicht erfüllt und Arbeitsschutzregeln abgebaut werden. Jetzt sind es auch Argumente, warum der Staat die Schulden der Banken übernehmen muss. Von der Auto- bis zur Pornoindustrie, von den Herstellern von Armaturen bis hin zu denen von Spielzeugeisenbahnen fordern alle unter heftigen Drohungen Unterstützung. Peinlich, dass die deutschen Banken diese Gelder bevorzugt dazu verwenden, um andere Banken zu kaufen: die Deutsche die Postbank, die Commerzbank die Dresdner. Peinlich, dass die HSH-Nordbank ihren privaten Eigentümern Renditen ausschüttet, nachdem sie Staatshilfen erhalten hat. Peinlich, dass die Boni für Mitarbeiter einklagbar sind, selbst wenn die Bank pleitegeht. Insgesamt wird die Krise so aber zu einer Rettung der Renditen, zur Reparatur der Krise des Kapitalismus.
Ein Gespenst geht um in Europa und in der Welt – das Gespenst einer Banken- und Finanzkrise ungeheuren Ausmaßes. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd auf dieses Gespenst verbündet – der Papst und die Zaren in Moskau, Merkel und Sarkozy, französische Radikale und deutsche Ordnungshüter, und auch die Herrscher in den asiatischen Ländern äußern Besorgnis darüber, was mit ihren Billionen Dollar wohl geschehen wird. Alle sind sich einig, dass dieses Gespenst unerbittlich bekämpft werden muss und dass alle Bürgerinnen und Bürger, vom reichen Banker bis hin zur letzten Putzfrau, dafür unvorstellbare Opfer zu bringen haben.
Jene allerdings, die dieses Gespenst erst geschaffen haben, kooperieren jetzt mit ihm, die Aktienbesitzer und Banker, die Spekulanten und Vorstände. Sie verdienen bereits wieder an Spekulationen und billig erworbenen Aktien. Sie wissen, dass ihre Zukunft gesichert ist. Denn sie haben mit ihrer Pleite am Ende einer grandiosen Abzocke das erreicht, was Kapitalisten bei Strafe ihres Untergangs erreichen müssen: Sie haben großartige Renditen erzielt und überlassen jetzt dem Staat ihre Schulden, verlangen dafür aber nach wie vor Zinsen – ein Kapitalismus ohne Kapital, der von den Zinsen vergangener Geschäfte lebt.
Die normalen Bankkunden, Bürgerinnen und Bürger, also jene, die die Zeche zahlen müssen, sie bleiben – einmal mehr – geduldig. Politiker, Banker und Medien gemeinsam appellieren an ihr Verantwortungsbewusstsein: „Wir haben euer Wirtschaftssystem ruiniert, und jetzt wollen wir noch die zukünftigen Generationen darauf verpflichten, jahrzehntelang Schulden dafür abzubezahlen. So lange haltet bitte noch still, bis wir das gesichert haben.“
Die Banken und Spekulanten wissen, was sie wollen. Die Bundesregierung modifiziert ihr neoliberales Denken nur wenig und zielt auf geringfügige, aber teure Reparaturen, bedient ihre Klientel und verbeugt sich vor der Lobby. Eine umfassende Analyse nimmt sie ebenso wenig vor wie das Entwickeln einer haltbaren Strategie. Auch die Zivilgesellschaft schweigt bisher, um Orientierung bemüht in einer unübersichtlichen Lage. Noch haben auch die Bürger, zumindest in Deutschland, Vertrauen und glauben den Versprechen der Ackermänner, obwohl sich deren Ansagen immer wieder als falsche Zusagen oder Prahlerei entlarven.
Es wird Zeit, dass wir nicht mehr nur von den Regierungen in anderen Ländern erfahren, sondern auch davon, wie die Völker in diesen anderen Ländern auf die Krise reagieren: dass die irischen Banken anderen Unternehmen im Ausland Geld in der Größenordnung des Zehnfachen des Bruttosozialprodukts schulden – und dass das mit Abzahlen in Jahrzehnten nicht zu reparieren ist; dass Ursache der Unruhen in Griechenland nicht nur eine versteinerte Politik, sondern auch eine unverantwortliche „freie“ Wirtschaft sind; dass die Isländer immerhin ihre Bankrotteursregierung davongejagt haben; dass sich in Lettland, Russland und Großbritannien Formen politischen Widerstands regen, die nicht mehr auf die Einsichtsfähigkeit der etablierten Regierungen hoffen.
Hier sollten die Medien ansetzen, indem sie von Alternativen berichten, statt wie zu Kaisers Zeiten Ruhe als erste Bürgerpflicht zu propagieren. Auch sie müssen sich entscheiden, ob sie ein Korrektiv gegen gierigen Kapitalismus und ängstliche Politik sein wollen oder nicht. Wir brauchen neue, an die Wurzeln gehende Ideen und Debatten, um unser Leben nicht länger durch entfremdete Arbeit bestimmen zu lassen. Nur wenn die Bevölkerung die Sache selbst in die Hand nimmt und der Regierung sagt, wie sie zu handeln hat, wird diese sich gegen die Lobbys durchsetzen und sich das Finanzsystem untertan machen können. Sonst wird das alles enden, wie Marx es vorausgesagt hat: Der Kapitalismus als eine Folge von Krisen, die immer existenzieller werden. Irgendwann dann auch für die Banker.