■ Straßmanns kleine Warenkunde: Das Etikett
Können Sie das? Zu jemandem hingehen und sagen: „Schuldigen Sie, Ihr Hosenschlitz ist offen!“ Ich nicht. Der Fall ist verzwickt. Man weiß, es würde anderen, die vielleicht auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch sind, die Karriere retten, oder Lehrern auf dem Weg in die Klasse den guten Ruf. Doch man schließt die Augen und eilt davon, fort vom Ort der derangierten Garderobe.
Jetzt kommt's noch dicker. Angenommen, jemand stinkt. Schon zu schreiben „Jemand stinkt“ ist unschicklich, menschenverachtend und ausgrenzend. Nun sitzen Sie im Auto, neben Ihnen ein Tramper, und innerlich flehen Sie, er möge nichts mehr von Marokko erzählen, nicht ein Wort! Denn wenn er den Mund aufmacht, schlägt alle Fäulnis und Verwesung dieser Welt heraus. Tramper aber denken, sie müßten den Autofahrer unterhalten, und reden umso mehr, je zugeknöpfter man wird. Da rettet zuletzt nur ein geröcheltes: „Ich habe das Bügeleisen angelassen“, um den Stinker an die frische Luft zu setzen. Spricht der Philanthrop: Im nächsten Auto dasselbe Elend – warum sagst Du es ihm nicht? Spreche ich: Ich kann nicht. Nie und nimmer kann ich dem Stinker sagen, du stinkst. Geruch und offener Hosenschlitz eines Menschen nämlich sind die letzten Tabubereiche, die wir kennen. Böses wird hereinbrechen, wenn wir sie berühren.
Niemand indes konnte mir bis jetzt folgenden Fall aus der Wirklichkeit entschlüsseln. Stellen Sie sich einen Kreis von etwa 40 Motorjournalisten vor, die einen Vortrag über Klimaanlagen in der Kompaktklasse hören. Motorjournalisten sind bekanntlich hochseriöse Leute und extrem unbestechlich. Unter solchen ich, ein Kühlschrank in der Wüste der Seriosität und Unbestechlichkeit. Natürlich mußte es so kommen: Nach dem Vortrag fasse ich mir wie von ungefähr an den Hals – und erstarre. Das Etikett kuckt raus! Beim Überdenkopfziehen des T-Shirts war es keck hochgeklappt und hatte mich seitdem hinterrücks verspottet. Seit dem Morgen! Jetzt war es Nachmittag!!!
Wenn Sie ein fühlender Mensch sind, kennen Sie das: Herzrasen, Erröten und Erblassen abwechselnd, Schweißausbrüche, Selbstvorwürfe. Nur: Warum keine Fremdvorwürfe? Niemand der Unbestechlich-Seriösen hatte mich auf das Malheur hingewiesen. Alle hatten betreten zur Seite geblickt. Ein Tabu? Am Hals?? Betreffend T-Shirt-Etiketten???
An alle! Wer je bei mir einen offenen Hosenstall, einen Gestank oder ein herauslugendes Etikett entdeckt – gebt mir einen Fingerzeig! Ich werde für Euch beten. BuS
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