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Das Ende einer Ära

■ Von Lisandro Otero

1961 hielt ich mich in Berlin auf, und eines Morgens erfuhr ich, daß man die Übergänge zwischen Ost und West überraschend geschlossen hatte. Den ganzen Tag lang lief ich den provisorischen Absperrungen an den ersten Stacheldrahtverhauen entlang: es war das Präludium zur Berliner Mauer.

Damals erklärte man mir, die Teilung sei notwendig, um die Wirtschaft der jungen Deutschen Demokratischen Republik zu schützen. Denn Menschen, die im Westen hohe Löhne bezögen, kauften dafür im Osten billige, subventionierte Waren - zum Schaden der DDR.

Vor einigen Wochen kam ich wieder nach Berlin und war dabei, als der berühmte Checkpoint Charlie feierlich geschlossen wurde. Die Außenminister von sechs Staaten, eine Musikkapelle und eine Garnison, die den Befehl erhielt, sich aufzulösen: das Ende einer Ära.

Im Laufe der Jahre war „die Mauer“ zum haßerfüllten Symbol des Kalten Krieges und der Teilung des deutschen Volkes geworden. Sie war eine der Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs; eine der letzten Spuren des Stalinismus, der Deformationen des bürokratischen Sozialismus.

Die Berliner Mauer ist nicht die einzige Mauer. Es gilt, viele Mauern abzureißen. Noch stehen die Mauern von gegenseitigem Mißtrauen und Argwohn, von Streit und Kampf zwischen den Menschen.

Es gibt auch eine Mauer zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten, eine zwischen den beiden Koreas, die Mauer zwischen den industrialisierten und den unterentwickelten Ländern, die Mauer des Unverständnisses zwischen den Rassen, die Mauer der Intoleranz, die der Heuchelei, die der falschen Information über das, was sich wirklich in anderen Völkern abspielt. Alle diese Mauern müssen auch verschwinden.

Für mich ist es eine Ehre, in genau dem Moment in Berlin zu sein, wo Deutschland sich auf den Weg macht, seine frühere Einheit wiederzuerlangen. Ich weiß, es gibt noch viele Schwierigkeiten und nicht wenige Hindernisse; ich weiß auch, daß ein Teil des deutschen Volkes noch eine Zeitlang unter den Folgen der Wiedervereinigung leiden wird. Aber ich wünsche mir, daß eines Tages das kubanische Volk ebenfalls seine Einheit erlangt und die Ressentiments der Vergangenheit verschwinden.

Wir sind nicht die erste Nation, die eine Diaspora erlebt: die Armenier, Juden, Polen, Iren - sie alle sind viele Male in ihrer Geschichte zerstreut worden, aber ihre geistige Einheit und kulturelle Identität sind intakt geblieben.

Das deutsche Volk hat es verstanden, dieses Kap der Stürme zu überwinden und wird, so hoffe ich, in einen sicheren Hafen einlaufen, genauso wie eines Tages die gesamte Menschheit.

Lisandro Otero, freier Schriftsteller und Journalist, wurde in Havanna, Kuba, geboren, studierte in den fünfziger Jahren an der Sorbonne in Paris, kehrte nach dem Studium nach Kuba zurück und lebte seither teils dort, teils im Ausland, und zwar in verschiedenen Ländern Lateinamerikas und Europas. Seine Bücher, Romane und Sachbücher wurden in 14 Sprachen, unter anderem auch ins Deutsche, übersetzt.

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