■ Das Ende des italienischen Verfassungskonsenses leitet auch das Ende europäischer Einigkeit ein: Nicht der Faschismus ist die Gefahr...
Die Hilflosigkeit, mit der Europas Regierungen und die Straßburger Parlamentarier auf den Rechtsruck in Italien und das nun bald obligatorische Handshaking auch mit faschistischen Ministern reagieren, belegt zunächst einmal zweierlei: Jenes Europa, das sich so gerne Prädikate wie „Gemeinschaft“ oder „Union“ zulegt, hat sich niemals darüber Rechenschaft gegeben, wie brüchig das politische Gewebe ist, auf dem es sich konstituiert hat. Und: „Europa“ selbst ist längst zu einer Chimäre geworden, unter deren immer wieder notdürftig überschminkter Haut sich riesige Eiterbeulen gebildet haben, die mit einem Mal durchbrechen und ein böses Siechtum, wenn nicht gar den Tod der modernen „Europaidee“ ankündigen. Nun ist für alle sichtbar, daß es „das“ Europa, wie es alle noch vor kurzem sahen, nicht mehr gibt.
In Italien hat der seit Mitte vorigen Jahres zu beobachtende Aufschwung der Neofaschisten und die nun bei der Parlamentsneuwahl erfolgreich durchmarschierte rechtsgerichtete Allianz um den Geschäftemacher Silvio Berlusconi die Aufkündigung des seit der Gründung der Republik 1946 bestehenden „Verfassungskonsenses“ provoziert – aber wer außerhalb Italiens hat sich je mit diesem Konsens befaßt? Er bedeutete nicht nur die plebiszitär beschlossene Ablehnung der Monarchie und auch nicht nur die Absage an Diktatur und Kriegstreiberei. Er bedeutete vor allem die Errichtung eines Staates, der es als eine seiner Hauptaufgaben begriff, soziale Sicherung und Wohlstand aller nicht nur über außenpolitische Manöver und Ausbeutung einzelner Klassen zu erzielen, sondern auch durch Umverteilung und eine kreuz und quer kontrollierte gesellschaftliche Gerechtigkeit.
Nur wegen der letzteren Komponente, nicht des Antifaschismus wegen, bekam die Nachkriegsrepublik ihre breite Zustimmung, wurden ihre Parteien auch von jenen wählbar, die vordem in Massen ihre Stimmen bei Mussolini abgeliefert hatten. Nur deshalb auch hielt dieses System der sogenannten „unvollständigen Demokratie“ so lange: es gab keinerlei Machtwechsel, und doch war die größte Oppositionspartei, die KPI, stets irgendwie in der Regierung mit vertreten; Don Camillo und Peppone bekriegten sich zwar, hielten aber in den essentiellen Fragen ihrer Schäflein zusammen. Die weisen ersten Generationen der Christdemokraten und ihrer Verbündeten banden die Kommunisten, die im „Roten Gürtel“ Mittelitaliens und der Emilia-Romagna die Regionalregierungen stellten, aber auch in Latium und Kampanien starke Bastionen hatten, in subalterner Position in ihr Machtgefüge ein. Es entstand die sogenannte „konsoziative Demokratie“, bei der alle Teilhaber des „Verfassungsbogens“, wenn auch unterschiedlich, an der Macht beteiligt waren. Dafür gaben die Kommunisten das in der letzten Periode des Weltkriegs und noch kurz danach praktizierte Revoluzzertum auf. So wurde ein großer Teil des Volkes immer wieder ans System gebunden, auch wenn die Regierungen stets auf wackelige Koalitionen mit manchmal nicht einmal mehr 45 Prozent Wählerzustimmung angewiesen waren.
Doch das Bewußtsein, daß in diesem Verfassungskonsens auch unzählige Menschen eingebunden waren, in denen durchaus das faschistische Potential weiter schlummerte, schwand in den Führungsgenerationen zunehmend – dafür trat immer stärker die Worthülse „Antifaschismus“ und „Resistenza“ in den Vordergrund. Und je mehr die sozialen Ziele durch die unkontrollierte und dann vollends in die „Schmiergeldrepublik“ übergehende Parteienherrschaft bei den Politikern in Vergessenheit gerieten, um so lauter betonten sie die Partisanenherrlichkeit und den einstigen Widerstand gegen den Faschismus: Am Ende war nur noch er das Gemeinsame, während der Staat längst leergefressen war.
Dabei starben natürlich jene Generationen nun langsam aus, denen das „Anti“ am Antifaschismus etwas bedeutet hatte, ganz einfach, weil sie Mussolinis Herrschaft und die deutsche Besatzung selbst erlebt hatten. Den nachwachsenden Generationen ist Mussolini nicht mehr als Diktator, als Befehlshaber gewalttätiger Horden zu vermitteln, er rückt in den Geschichtsbüchern heute immer mehr in die Nähe Napoleons – als einer, der Großes wollte und am Ende scheiterte, doch immerhin sein Land nachhaltig stabilisierte. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, im Gesamtbild das angebliche Spreu vom angeblichen Weizen zu trennen – den Mussolini der erfolglosen Kriegszüge vom Mussolini der inneren Sicherheit und der Volksnähe.
Das alles müßte natürlich noch lange nicht auf Europa übergreifen – wenn Europa nicht seinerseits ebenfalls auf ganz ähnlichen Fundamenten „erbaut“ worden wäre. Mehr noch: Gerade die Erosion „Europas“ stärkt nun in Italien offenbar just jene Kräfte, die mit allem brechen wollen, was vordem unter der Rubrik „Konsens“ lief. Europa hat nie verstanden, warum Italiens MSI mit seinen alten und neuen Faschisten innenpolitisch immer isoliert war: Man glaubte in Brüssel wie in Bonn, Paris, London, die politische Klasse wie das Volk habe sich einfach von der Grauenhaftigkeit des Faschismus überzeugt, ein Rückfall sei unmöglich. In Wirklichkeit hatten sich die Neofaschisten jedoch durch – damals noch – hartnäckig unzeitgemäße Programmpunkte selbst aus dem Kreis der politisch relevanten Kräfte ausgeschaltet: etwa mit der Forderung nach dem „Wiederanschluß“ Istriens und der dalmatischen Küste, der Verweigerung einer Anerkennung aller nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen, den Nichtverzicht auf kriegerische Abenteuer und die Nichtachtung von Minderheiten (etwa in Südtirol), sozialpolitisch auch mit der Forderung nach Todesstrafe und nach Rückbesinnung der Frauen auf die Werte von Küche, Kirche und Kindern.
Genau diese jahrzehntelangen „isolierten“ Vorstellungen werden nun mehr und mehr „gesellschaftsfähig“ – doch sie wurden es nicht zuerst in Italien, vielmehr stand hier „Europa“ Pate: die schnelle Bereitschaft zum Krieg gegen den Irak, dagegen wiederum die langmütige Gleichgültigkeit (oder Hilflosigkeit) gegenüber Genoziden oder „ethnischen Reinigungen“, die Akzeptanz immer größerer Gewalt in der Gesellschaft, das Zurückdrängen der Frauen aus der Arbeitswelt, die Rücknahme emanzipatorischer Gesetze in vielen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft. Italien macht lediglich, als einzelnes Land, vor aller Augen klar, wie weit die subkutane Fäulnis der ursprünglichen Werte „Europas“ bereits vorangeschritten ist.
Auch in Europa standen am Anfang der „Einigkeit“ einerseits der Antifaschismus, der antidiktatorische Aspekt, die Liberalität. Auf der anderen aber zogen noch mehr jene Werte, mit denen man jenseits der Systemformen Massen gewinnt – auf ideologischem Gebiet die christliche Soziallehre, das Bekenntnis zum Frieden und zu einer – wie auch immer verstandenen – demokratischen Staatsform. All dies weithin überzeugend vorgetragen von Adenauer, De Gasperi, Schumann (später populistisch eingeschränkt von de Gaulle und erneut in Renaissance bei Willy Brandt und dem frühen Mitterrand). Doch auch hier hat sich mit fortschreitender Aushöhlung der letztgenannten Werte die erste Komponente zur übermächtigen Worthülse entwickelt: Aus der Hoffnung auf ein Wiedererstehen des „christlichen Abendlandes“ mit dem Übertitel „Vaterland Europa“ wurde das „Europa der Vaterländer“ de Gaulles, und später trat Thatchers „Wirtschaftseuropa“ an die Stelle des politischen Europa. Die Krone setzten dem Ganzen dann Sprücheklopfer wie Kohl und der späte Mitterrand mit den Maastrichter Verträgen auf, in denen nicht einmal mehr die Interpunktion Europainspiration ausdrückt.
Es war also weniger das Werk der italienischen Wähler und auch nicht eine zähe, weit vorausschauende Kleinarbeit der Neofaschisten unter dem Wendehals Gianfranco Fini, die nun die Ratlosigkeit Europas provozieren, sondern umgekehrt: Es war Europa, das den Italienern das Wegwerfen der zu Hülsen gewordenen ursprünglichen Werte geraten sein ließ. Und siehe da – darunter zeigt sich all das, worauf in Krisenzeiten allemal Verlaß ist: knappe, glatte Wunderformeln zur Beseitigung von Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und behördlicher Ineffizienz, Rückgriff auf alte Traditionen aus angeblich besseren Zeiten, Appell an den angeblichen „Souverän“, das Volk also, der die derzeit „Mächtigen“ doch endlich auf demokratische Weise verjagen möge, damit die Neuen mit starker Hand „durchgreifen“ können.
Genau an diesen Stellen müßte die Auseinandersetzung mit dem so scheinbar unvermittelt über „Europa“ gekommenen Südwind geführt werden, müßte die Unhaltbarkeit der Wunderformeln ebenso wie die Wahrheit über die „gute alte Zeit“ sinnlich gemacht, die Lüge von den einfachen Mitteln zum Kampf gegen die Kriminalität erwiesen werden.
Doch wer in Europa soll das tun – wo doch in Frankreich und Deutschland, in England und auch den neuen Europaunionsaspiranten im Osten die Wahlkämpfer verschiedenster Couleur mit ebendiesen Verblödungssprüchen auf Dummenfang ziehen und wo den Europaparlamentariern angesichts der drohenden Annexionsforderungen der nun mitregierenden Neofaschisten kein Wort zu Istrien einfällt, sondern nur die Berufung auf die abgeklapperten „Anti“-Gründungswerte von „Europa“ anno Tobak? Werner Raith
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