Das Ende des Zirkus Karajani

■ Wer wird neuer Direktor? Zur Frage des Tages ein bißchen Geschichte, die rechtliche Lage und erste Gerüchte

Als die Nachricht von Karajans Kündigung kam, hatten sie gerade Probe. Keiner der Mitglieder des Berliner Philharmonischen Orchesters ahnte auch nur das Geringste, erst am Abend hörten sie über den Landespressedienst vom Abgang ihres Chefs.

So überraschend, wie alle Welt jetzt tut, kam die Nachricht allerdings nicht. Zwischen Orchester und Karajan kriselt es seit Jahren, der Taiwan-Skandal vor einem Jahr war da nur die Spitze des Eisbergs. In seinem Abschiedsbrief grollt der Dirigent, daß auch die neue Kultursenatorin sich nicht beeilt habe, ihm bessere vertragliche Bedingungen zuzugestehen - dabei handelt es sich um Streitfragen, die so alt sind wie Karajans Antritt vor 35 Jahren. Immer wieder hatte er seitdem versucht, was seine Berlinpräsenz, die Gastdirigenten, Auslandstourneen und Neueinstellung von Musikern angeht, die Rechte des Orchesters zu beschneiden. Und immer wieder hatte der Kultursenat, oft unter kräftiger Mithilfe des Intendanten als Vermittler zwischen der Stadt und den Philharmonikern, dem großen Meister nachgegeben. Dabei ist seine Willkür Legende: Im Laufe seiner Berliner Jahre hat Herr von K. mehr als 60 Konzerte einen Tag vorher wegen Krankheit abgesagt, um manchesmal kaum 24 Stunden später frisch genesen ins Ausland zu jetten. Und die immer wieder vom Orchester gewünschten Israel-Konzerte, zuletzt anläßlich einer Staatsvisite Diepgens 1984, hat Karajan, der wegen seiner Nazi-Vergangenheit in Israel unerwünscht ist, bis heute erfolgreich verhindert: Hassemer ließ sich's gefallen. Daß sich das reine Männer-Orchester im Falle der Klarinettistin Sabine Meyer, die Karajan unbedingt wollte, gegen seinen Chef durchsetzen konnte, bleibt die Ausnahme. Wenn auch eine traurige.

Klaus Häussler vom Orchestervorstand bedauert nun, allen Dissonanzen zum Trotz, die plötzliche Kündigung. Es ist ihm „eigentlich unvorstellbar, daß mit dieser Nachricht eine 35 Jahre währende künstlerische Partnerschaft endet“. Zumindest hofft er noch auf einen Briefwechsel.

Mit der Suche nach einem Nachfolger werden sich die Musiker wohl Zeit lassen. Schließlich sind sie es im Grunde gewohnt, ihre Belange ohne eine Leitung zu regeln. In Karajan hatten sie zwar de jure einen Chef, de facto aber seit zehn Jahren einen Gastdirigenten. Mit Karajans Kündigung hat sich dieses Verhältnis nun umgekehrt. Ob der Maestro in Zukunft jedoch wenigstens als Gast in der Philharmonie den Taktstock heben wird, wie die Musiker es wünschen, steht derzeit in den Sternen. Alle für die laufende Saison geplanten Berliner Konzerte hat Karajan abgesagt, und das für den 30.Mai geplante Konzert in Ost-Berlin - erstmals nach dem Krieg wollen die Philharmoniker jenseits der Mauer auftreten wird statt seiner James Levine dirigieren.

Laut Statuten liegt die Entscheidung allein beim Orchester. Zwar sind die Musiker Angestellte des Landes Berlin,

und Karajans Nachfolger wird von der Stadt eingestellt, aber die ansonsten selbstverwaltete „Orchesterrepublik“ (mit Vorstand und Fünferrat) hat entscheidendes Mitspracherecht nicht nur beim Repertoire und bei der Anstellung der Kollegen: Die Kultursenatorin wird die Wahl der Orchesterversammlung akzeptieren müssen, zumindest kann sie niemanden gegen deren Willen berufen. Im Gespräch sind derzeit Namen wie Daniel Barenboim, Lorin Maazel, James Levine, Claudio Abbado. Aber, so der Stellvertretende Konzertmeister Hellmut Stern, „nach 35 Jahren haben wir auch ein wenig die Übung verloren, uns einen Chefdirigenten zu suchen.“ Immerhin müssen sich 120 Mann erstmal einig werden, und da die Vorbereitungen für die nächsten beiden Saisons längst abgeschlossen sind, können sie sich den Luxus leisten, sich ihr Votum gründlich zu überlegen. Eines jedoch steht jetzt schon fest: einen Vertrag auf Lebenszeit (der von Karajan lief „Etwa-auf-Lebensdauer“) wird der Senat wohl nicht mehr ausstellen. Außerdem überlegt das Orchester, ob die Funktionen Dirigent und künstlerischer Leiter nicht in Zukunft von zwei verschiedenen Personen wahrgenommen werden sollen.

Das Imperium Karajan ist mit seiner Kündigung, die viele für einen Rache-Akt halten, noch lange nicht zusammengebrochen. Und das Orchester kann im Grunde aufatmen. Ihre Selbstbestimmungsrechte werden sich die bestbezahlten Musiker der Nation auch künftig nicht nehmen lassen. Schließlich hat die Sorge nicht nur um den schönen Ton, sondern auch ums eigene Wohl bei den Philharmonikern Tradition. Seinerzeit quittierten 54 Musiker ihren Dienst in Benjamin Bilses Kapelle, weil sie auf der Konzertreise nach Polen 4.Klasse reisen sollten und gründeten das, was bis heute als Deutschlands berühmtestes Orchester gilt. Man schrieb das Jahr 1887.

chp