Das Eigene im Fremden hassen

GERÜCHTE Was sagt Freud dazu? Ein Vortrag im Museum für Kommunikation analysierte den Antisemitismus als Form des Gerüchts

Gerne kleidet sich das Vorurteil in den Positivismus vermeintlicher Fakten

Gerüchte sind Auftrittsformen des Wissens. In ihnen behauptet sich Ungewisses aus trüben Quellen. Wie sie entstanden, liegt meist im Dunkeln. Ob ihre Behauptungen wahr sind, tut für ihre Wirkung wenig zur Sache.

Gerüchte sind das, was entsteht, wenn eine Information, die falsch oder richtig sein kann, sich durch Klatsch, Tratsch, Hörensagen und Weitererzählen verselbständigt. Weil man Gerüchte kaum an der Wurzel packen kann, schafft man sie, sind sie erst einmal drin, nur schwer wieder aus der Welt. Sie lassen sich gezielt streuen, hinter ihnen stehen Interessen. Darin liegt ihre Kraft, ihre Macht und ihre Gefährlichkeit. Eine aus Bern übernommene Ausstellung im Museum für Kommunikation geht derzeit dem Gerücht als Auftrittsform nach. Zu den dreizehn Themenbereichen gehören Kapitel wie „Sündenböcke“, „Verschwörungstheorien“ und „Gerücht und Macht“.

Die Ausstellung wird von einer Vortragsreihe begleitet, die das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung konzipiert hat. Die Kulturwissenschaftlerin Christine Kirchhoff wählte für ihren Vortrag einen etwas rätselhaften Aphorismus aus Theodor W. Adornos 1951 veröffentlichten „Minima Moralia“ zum Gegenstand: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ Der Untertitel versprach Überlegungen „Zur (Psycho-)Analyse von Antisemitismus und Verschwörungstheorie“. Sigmund Freud, stellte Kirchhoff fest, schrieb verblüffenderweise nirgends über das Gerücht. Sie spekulierte, dessen Beziehung zum Unbewussten gleiche vielleicht der des Witzes. Die Lust am Witz erklärt Freud als Effekt einer Ersparnis: Weil der Witz sich nicht vor der Vernunft rechtfertigen muss, fällt der Aufwand der Selbstzensur weg. So spricht im Witz sich das Vorurteil ungestraft aus. In seiner Verantwortungslosigkeit ähnelt er in der Tat dem Gerücht.

Weiteres zum Thema lässt sich, so Kirchhoffs Vorschlag, in Adornos und Horkheimers 1944 entstandener „Dialektik der Aufklärung“ nachlesen. Ein Klassiker der linken Modernekritik, der gesellschaftliche Phänomene mit Hilfe von Marx und Freud deutet. Das letzte Kapitel des Bands trägt den Titel „Elemente des Antisemitismus“. Es geht darin – wie im ganzen Buch – im Kern um die barbarischen Seiten dessen, was man sich gerne als Geschichte von Fortschritt und Zivilisierung erzählt. Die brutale Ab- und Ausstoßung eines Fremden, und zwar bei bestem Gewissen, ist für Adorno und Horkheimer die notwendige Kehrseite der kapitalistischen Scheinvernunft der Verhältnisse.

Ausgestoßen wird das Fremde, so die nächste Pointe, weil es dem Eigenen in Wahrheit zu nah ist: Der Antisemit hasst „den Juden“ und ekelt sich in ihm vor sich selbst. Schärfer noch: im Juden ekelt er sich vor dem, was er selbst ist, als einem vermeintlich ganz Anderen. „Der Jude“ ist reine entlastende Projektion. Historische Vorurteile kommen dazu. Verschwörungstheorie und Gerücht transportieren das Verbreitete weiter. Exemplarisch nennt Kirchhoff die bis heute nicht nur im arabischen Raum präsente, himmelschreiend paranoide antisemitische Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“.

Im Prinzip ist die Besetzung des bis zur Mordlust gehassten eigenen Fremden freilich beliebig. Es können auch die Sinti und Roma sein, die Heuschrecken des Finanzkapitals oder auch die Muslime. Wie gern sich das Vorurteil in Statistiken und den Positivismus vermeintlicher Fakten der Wissenschaft kleidet, betonen schon Horkheimer und Adorno. Dass man mit dergleichen auch heute noch Bücher in Millionenauflage verkauft, ist leider mehr als nur ein Gerücht.

EKKEHARD KNÖRER