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Archiv-Artikel

Das Donbass bleibt rot

AUS DONEZKHEIKE HOLDINGHAUSEN

Lena sitzt in einem Café in der sonnigen Puschkinstraße und quirlt ihre Cola, bis der Strohhalm knickt. Ihr gegenüber nippt Kommilitonin Olga am Tee, Studienfreund Viktor beugt sich über einen Milchkaffee. Er fand die Idee zu einer Verabredung für Sonntag um zehn etwas zeitig. Die drei studieren Internationale Beziehungen an der Uni Donezk im Südosten der Ukraine, und sie heißen eigentlich anders. Aber sie wollen über Politik reden, und das kann für Studenten derzeit gefährlich werden in diesem Land, zu Exmatrikulationen und Repressionen führen. Darum also Lena, Olga und Viktor.

Entweder die Ukraine bewege sich Richtung Westen, in die Europäische Union, sagen sie, oder nach Russland. Entschieden werde das bei der Präsidentenwahl am kommenden Sonntag. Ständig streiten sie sich darüber – und finden keinen gemeinsamen Nenner. Am 31. Oktober wählen die Ukrainer einen neuen Präsidenten. Zwei der 24 Kandidaten haben eine Chance – Ministerpräsident Viktor Janukowitsch und sein Herausforderer Viktor Juschtschenko, die in den letzten Monaten einen extrem polarisierenden Wahlkampf geführt haben. Lena ist erst 17 und darf noch nicht wählen. Doch wenn sie könnte, würde sie für Juschtschenko stimmen, den Oppositionellen mit dem Blick nach Westen. Sagt sie und staucht ihren Strohhalm. Viktor und Olga ziehen die Brauen hoch. „Juschtschenko? Also ehrlich“, sagt Viktor. Er, schon 18, wird dem jetzigen Ministerpräsidenten Janukowitsch seine Stimme geben, genau wie Olga. Sie wissen, dass sie damit richtig liegen, in Donezk wollen das fast alle so machen.

Dass sie es auch wirklich tun, dafür soll sich die Verwaltung in den letzten Monaten sehr eingesetzt haben – von massivem Druck auf Soldaten, Lehrer, Studenten und Arbeiter der staatlichen Betriebe wird berichtet. „Druck gab es auf uns nicht“, sagt Olga, „ich hab aber gehört, dass man seine Stimme verkaufen kann.“

Die Millionenstadt Donezk, die von Schwerindustrie und Bergbau lebt, ist Janukowitsch-Stadt. Er war einmal Verwaltungschef der Region Donbass, deren Hauptstadt Donezk ist. Nun hängen seine Plakate in der Stadt, er grinst im Schaufenster des Benettonladens, zwischen Matrjoschkas im Geschenkeshop, im Friseursalon. „Er kommt von hier“, sagt Viktor, „als Gouverneur hat er einen guten Job gemacht.“ Unter ihm habe die Verwaltung funktioniert, die großen Industriebetriebe kenne er. Guter Kontakte zum Donezker Oligarchen-Clan – neben denen aus Dnjepropetrowsk und Kiew eines der wichtigen Machtzentren im Land – kann sich Janukowitsch rühmen. In ihm ist er groß geworden.

„Ach, Juschtschenko wird doch auch von Oligarchen unterstützt“, sagt Olga und streicht sich eine blondierte Strähne aus dem Gesicht, „da sind die doch wirklich alle gleich.“ Und diese Vergiftungsgeschichte nimmt sie ihm auch nicht ab. Im September litt Juschtschenko unter einer Infektion, deretwegen er sich in einem Wiener Krankenhaus behandeln ließ. Als der Oppositionskandidat mit verquollenem Gesicht wieder auftauchte, behauptete er, einem Giftanschlag zum Opfer gefallen zu sein. „Wer weiß, was das war“, argwöhnt Olga, „vielleicht ist der auch einfach krank.“ Lena wirft fast ihr Glas um. Für sie ist klar, dass der Wahlkampfstab um Janukowitsch einen Anschlag auf den Gegner verübt hat, der in Umfragen schließlich beständig vor ihm lag. Energisch wedelt Olga mit ihrer Rechten die Kellnerin herbei, genug gesessen. Die drei wollen ihrem Gast die Stadt zeigen. „In der Westukraine, in Lemberg oder so, denken sie immer, eine Stadt braucht eine Kirche in der Mitte und davor einen Marktplatz“, sagt Lena.

„Wir leben gut hier“

Donezk hat keine richtige Mitte. Die Straßen bilden ein Schachbrettmuster. In den 60er-Jahren hat Donezk einen Unesco-Preis als „grünste Industriestadt“ gewonnen, und wirklich sind die mehrspurigen Fahrbahnen größtenteils Alleen. „Wir leben gut hier“, sagt Viktor, der Schlaks in Jean und Parka, „wir haben Industrie, Arbeit und mehr Geld als der Westen.“ Sollen sie dort in ihren runtergekommenen K.-u.-k.-Städtchen sitzen, Däumchen drehen und von Europa träumen. Geld wird im industrialisierten Osten verdient.

Zum Beispiel im Süden von Donezk. Dort schlägt das Herz der Stadt, die Fördertürme und Geröllhalden der Bergwerke bilden ihre Silhouette. Dorthin saust der Minibus, in dem sich die drei drängen. Der Bus fährt vorbei an riesigen Fabrikgeländen. Viktor steht mit eingezogenem Kopf im Kleinbus und schwärmt noch immer. „Wir sind das Ruhrgebiet der Ukraine“, sagt er stolz. Ökonomen sehen das ähnlich, sie prognostizieren der Region einen Strukturwandel, wie ihn der deutsche Westen die vergangenen dreißig Jahre durchgemacht hat, nur brutaler – weil er zu spät beginnt und Geld fehlt, ihn sozial abzufedern.

Aber so hat Viktor das nicht gemeint. Strukturwandel, wieso denn? Maschinenbau, Chemie- und Metallindustrie seien ja wohl international wettbewerbsfähig. Zumindest auf dem russischen Markt sei man stark vertreten, sagt er. „Russland ist für uns sowieso wichtig“, sagt Olga. Ihr Onkel wohnt in Russland, „fast alle haben Verwandte dort.“ Wenn sie mit Lena über die Kandidaten streitet, sprechen sie dabei russisch, auch wenn sie in Schule und Uni inzwischen zum Ukrainischen verpflichtet sind. Darum ist Olga auch sehr einverstanden mit der Ankündigung ihres Kandidaten Janukowitschs, das Russische als zweite Amtssprache einzuführen. Im Westen der Ukraine, in der der Oppositionskandidat Juschtschenko überwältigende Zustimmung findet, ist man darüber empört. Dort befürchtet man, dass das Land wieder unter die Fuchtel Russlands gerät, dass es sich mit Janukowitsch als Präsidenten direkt auf den Weg begibt, den Weißrussland eingeschlagen hat.

Das treibt auch Lena um. „Pressefreiheit und Demokratie“, wettert sie, „das gibt es nur, wenn Juschtschenko Präsident wird.“ Und er würde auch Präsident werden – wenn die Regierung das Ergebnis nicht fälscht. Glaubt sie, dass das so wird? Sie zuckt die Schultern. „Weiß nicht, abwarten“, sagt sie. Der Bus holpert durch Schlaglöcher, langsam werden die Häuser niedriger. Hier, wo Donezk ländlich wird, beginnen die Bergwerke. Von den ehemals hellblau oder grün gestrichenen Mauern, die sie umgeben, blättert Farbe. Dazwischen stehen Kohlköpfe, Ziegen knabbern an Sträuchern. „Das ist die Ukraine – eine Stadt, ein Förderturm, eine Ziege“, sagt Lena. Wirtschaftliche Entwicklung sei doch auf Dauer nur in einem Rechtsstaat mit funktionierender Zivilgesellschaft möglich, oder etwa nicht?

Viktor winkt ab. „Demokratie ist nicht unser Problem, die brauchen wir erst mal nicht“, sagt er, „Freiheit braucht man für die Wirtschaft, nicht für das Parlament oder die Medien.“ Er interessiert sich für deutsche Gehälter. Dass es auch in der Bundesrepublik nicht mehr so einfach ist, einen gut bezahlten Job zu ergattern, hat er von Bekannten gehört. Das deutsche Bafög beeindruckt ihn, er bekommt wie alle Studenten etwa 100 Griwna monatlich vom Staat, das sind 15 Euro. „Das reicht für eine Monatskarte und ein paar mal Disco“, sagt er. Er lebt wie Olga und Lena bei den Eltern, sie finanzieren das Studium.

Der Bus hat sein Ziel erreicht, die Endhaltestelle im Stadtteil Pajon. Hier ist die Straße nicht mehr geteert, Hunde streunen auf drei Beinen um die Hocker alter Frauen, die mit krummen Rücken und bunten Kopftüchern vor Eimern mit Birnen und Kartoffeln sitzen. Daneben gibt es Stände mit Schokoriegeln, Brot, Bier. Olga kauft Apfelsaft. „Die Alten, die stimmen für die Kommunisten“, sagt sie. Es ging ihnen zur Sowjetzeit besser. Obwohl die Regierung die Renten vor den Wahlen mehrmals angehoben hat, müssen Pensionäre noch immer mit etwa 300 Griwna auskommen. Das ist auch hier nicht viel. Die Fahrt hierher hat 1 Griwna gekostet, der Apfelsaft 1,50, ein Kilo Fleisch auf dem Markt gibt’s für rund 40 Griwna, das sind etwa sechs Euro.

Auswandern? Nein

Olga beginnt zu maulen. Ihre Pumps quälen sie, und nun soll sie auch noch einen Spaziergang machen auf dem löchrigen, staubigen Fahrbahnrand. Sie will einmal was mit Tourismus machen – „da findet man leicht einen Job“ –, auf jeden Fall aber in Donezk bleiben. Auswandern wie so viele? „Nein“, sagt sie. Auch Lena sieht ihre Zukunft in der Ukraine, im Ausland würde sie aber schon mal gerne arbeiten. „Klar ist es schwer, einen Job als Diplomatin zu bekommen“, sagt sie, „aber versuchen werd’ ich es.“ Sie und Viktor zeigen Erbarmen mit der humpelnden Olga, sie spazieren zurück zur Haltestelle. Eine stattliche Zahl Wartender hat sich versammelt. Als der Bus heranbrummt, ein großer Oberleitungsbus diesmal, beginnt die Menge zu wogen. „Los, ich will einen Sitzplatz“, sagt Lena. Sie verschwindet hinter Hüten, Lockenköpfen und Kopftüchern. Langsam schiebt sich die Menge hinein, Olga hüpft hoch, entdeckt Viktor. Lena hat tatsächlich einen Sitzplatz ergattert – wie hat sie das gemacht? – und schaut aus dem Fenster. Der Bus schaukelt langsam zurück in die Stadt.