Das Ding, das kommt: Auf Umwegen angekommen
Das liest oder hört man immer wieder: Eine unverschlüsselte E-Mail sei das, was früher eine Postkarte war – ein nach heutigem Maßstab unverantwortlicher Kommunikationsweg. Es sei denn, es ist einem egal, dass jeder lesen kann, was man mitzuteilen hat. Und es fehlt dieser Moment der Erwartung und Vorfreude wie beim Brief. Oder der Vorbefürchtung: Was steht bloß drinne? Bei der Postkarte ist alles sofort da.
Ob jemand die Postkarte von Wera V. gelesen hat, verfasst am 5. 2. 1941? Also außer Elise V., ihre Mutter, damals wohnhaft in der Eckhoff-Straße 41, Hamburg 24. Irgendwo unterwegs beim Verladen von einem Zug in den anderen aus einem Postsack geholt oder später beim Sortieren in einem Hamburger Postamt in die Hand genommen: „Liebe Mutter! Auf Umwegen hier angekommen. Übernachtet Wartesaal Charlottenburg.“
99 Postkarten werden folgen, die Wera V. ihrer Mutter aus dem damaligen, von der Wehrmacht besetzten Posen geschrieben hat, das heute Poznan heißt. Keine Liebesgeständnisse sind zu entdecken. Oder Anzeichen von Heimweh, von Enttäuschung, Angst.
Alltägliches findet sich. Wie das Wetter ist. Dass die Briefeschreiberin eben rauchend am Fenster stand. Dass sie Zahnschmerzen hatte. Dass die Wäsche angekommen ist, die ihr die Mutter aus Hamburg geschickt hat, über eine Distanz von über 500 Kilometer, mitten im Krieg. Auf den Vorderseiten: Fotos. Der Bahnhof von Posen. Der Stadtpark, das Schloss. Die Gauverwaltung.
Ein Stoff, dass die Fantasie durchgeht. Dass sie nach Halt sucht. Es liegt etwas vor einem, ein Monolog aus 100 Postkarten, aber so vieles fehlt. Und – hat die Mutter geantwortet? Hat sie Briefe geschrieben? Oder ebenfalls Postkarten, gleichfalls einsehbare Post? Und immer mehr öffnet sich ein Erzählraum: kein Geheimnis zu behaupten, wird sehr geheimnisvoll.
Diesem Paradox nähert sich die polnische Theaterregisseurin Ewa Kazmarek, die im Rahmen der Theater-Altonale mit einem zweiteiligen Abend nach Hamburg kommt: Der erste Abend widmet sich der postkartenschreibenden Tochter, der zweite ihrer Mutter. Kazmarek stieß in der Bibliothek der Universität von Poznan auf jene 100 Postkarten. Und wo fand man zuvor die Postkarten: im Internet. Dort angeboten im Rahmen einer Auktion. Das Motiv, sie zu ersteigern: Der Leiter der Poznaner Bibliothek sucht nach alten Ansichten seiner Stadt. Dann drehte er die Postkarten um. Und nun lesen wir mit. So wie es sein soll. Frank Keil
„Wera V.“: Do, 14. 7.; „Elise V“: Fr, 15. 7.; je 20 Uhr. Kolbenhof, Friedensallee 128, Hamburg
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