piwik no script img

Das Ding, das kommtAus altenZöpfen gemacht

Was für ein schicker, hipper Undercut fürs Stadtbild: Bis zur Wurzel abrasiert wurden die leicht brüchigen und glanzlosen Esso-Häuser an der Hamburger Reeperbahn im vergangenen Jahr – weg mit dem Spliss! Und die Läuse, die darin hausten, sind gleich mit verschwunden. Jetzt kommt, von St. Pauli aus gesehen, die schick hochfrisierte und wallende Elbphilharmonie richtig toll zur Geltung.

Und an der kahlen Stelle an der Reeperbahn wächst ja bald schon Trendigeres in die Zukunft. In der benachbarten Taubenstraße, mit Blick auf die Baulücke, lässt der Wachstum aber noch auf sich warten. In dem ehemaligen Friseurgeschäft meint man, noch die Pomade aus den 60er-Jahren riechen zu können. Spuren von abgebrochenen Renovierungsarbeiten finden sich hier, seit drei Jahren steht der Laden leer. Aber siehe da: Auch hier wird nächste Woche wieder etwas sprießen.

Eine kleine Gruppe KünstlerInnen aus dem – auch ganz unreguliert wachsenden – Netzwerk Cobra zieht im Rahmen des Reeperbahn-Festivals für vier Tage in den abgewrackten Damensalon und veranstaltet in den drei Räumen eine Performance, die sich assoziativ gewaschen hat. Der Mythos vom Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, und der Vortrag „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan sind Ausgangspunkt einer immer weiter wuchernden Auseinandersetzung mit Haaren, erklärt Regisseur Calendal Klose.

Im ersten Raum wird geschoren, geschnitten, entlaust, gesalbt, gefönt, getrascht und geklatscht. Dort geht es um Herrschaft und Umwälzung, Machtbescheidung und hinduistischer Tempelhaar-Opferkult, die Frisur als Revolte, die neue Frisur als narzisstischer Selbstentwurf und der Verlust des Haares als Beginn des buddhistischen Weges der Einsicht: All das verknotet sich hier, bevor es geläutert durchs Spiegelkabinett in den hinteren Raum geht.

Im Ex-Friseurgeschäft meint man, noch die Pomade aus den 60er-Jahren riechen zu können

Dort wartet dann schon das Orakel – und liest aus alten Zöpfen, aus dem Rest, dem Übriggebliebenen die Zukunft. Und auch die Stadt, sie sieht danach ganz anders aus. MATT

Performance: „Cobrasalon.cobra“ im Rahmen des Hamburger Reeperbahn-Festivals: 23.9. bis 26.9., jeweils 14 bis 23 Uhr, Taubenstraße 23

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen