■ Das Dilemma der globalen Entwicklung: Die Saat Europas geht weltweit auf
Das Thema, dem ich mich widmen soll, ist die Frage: Brauchen wir einen Richtungswechsel in der globalen Entwicklung? Wird von einer Fülle regionaler und historischer Besonderheiten abgesehen, kann wohl vergröbernd gesagt werden, daß die derzeitige globale Entwicklung ihren Drall – die Vermutung einer Richtungsvorgabe dürfte ein wenig wirklichkeitsfremd sein – von Europa und dessen globalen, namentlich nordamerikanischen Derivaten erhielt. Um diesen Drall zu begreifen und dann gegebenenfalls über dessen Veränderungsmöglichkeiten nachzudenken, sollten deshalb zunächst die europäischen Vorgaben geklärt werden.
Spätestens mit der Renaissance begann Europa eine globale Sonderrolle zu spielen. So reiste zuerst Marco Polo nach China und nicht Chinesen nach Venedig. So segelte Kolumbus nach San Salvador und nicht San Salvadorianer, oder wie immer sie sich nannten, nach Spanien. Und wo immer Europäer anlandeten, missionierten sie im weitesten Sinne dieses Wortes. Das heißt, sie versuchten überaus aktiv, ihre Denk-, Sicht und Handlungsweisen zu importieren. Das „Missionieren“, so wurde kürzlich von renommierten Historikern auf einer Konferenz der Europäischen Kommission in Leiden festgestellt, sei vermutlich die hervorstechendste Charaktereigenschaft der Europäer überhaupt. Was aber war ihre Mission, ihre Botschaft? Welche Ideen sollten der weiteren globalen Entwicklung den Drall geben? Vor allem drei:
Erstens: Überwinde Grenzen, Grenzen des Raumes, der Zeit, des Wissens, der Macht. Das war das Erbe des Judentums, das vom Christentum weitergereicht worden war. Die Juden hatten als erste den entgrenzten Gott gedacht. Ihr Gott war allgegenwärtig, ewig, allwissend, allmächtig. Die Götter der übrigen Menschheit waren begrenzt. Sie waren gezeugt und fehlsam. Deshalb traf der jüdisch- christlich-islamische Gott die übrige Menschheit wie ein Schock.
Zweitens: Im Mittelpunkt steht das Ich. Es trägt unmittelbar Verantwortung jetzt und in Ewigkeit. Seine Entfaltung und Erfüllung ist ein hohes Ziel. Folglich hat ihm auch die Gemeinschaft zu dienen. Und wie der Gottesbegriff traf auch dieser Gedanke, Erbe griechischer und christlicher Traditionen, die übrige Menschheit wie ein Schock.
Drittens: Fast alle Güter dieser Welt und selbst Dienste und Ideen sind dem Individuum persönlich zugeordnet. Die Welt setzt sich aus Eigentumstiteln zusammen. Sie erlauben dem einzelnen, alle anderen von der Nutzung „seiner“ Güter auszuschließen und nach Belieben mit ihnen zu verfahren. Die übrige Menschheit brauchte wiederum lange, bis sie so etwas Unbegreifliches begriff.
Aber auch die Europäer selbst taten sich mit ihrem jüdisch-griechisch-römischen Erbe – synthetisiert im Christentum – weniger leicht als das im nachhinein mitunter erscheint. Immer wieder explodierte es in ihren Köpfen: In der Reformation, der Aufklärung, der Nationalstaatsbildung und schließlich der industriellen Revolution. Und jedesmal war die Zahl der Opfer beträchtlich. Für die Ideen der Europäer zahlten also auch die Europäer und nicht nur die übrige Menschheit einen hohen Preis.
Dabei steht die größte Rechnung sogar noch aus, die Rechnung für die Folgen jener tollkühnen Idee, den entgrenzten, aber zumindest transzendentalen Gottesbegriff innerweltlich zu wenden und so die stets nach Antwort heischende Sinnfrage neu zu beantworten.
Was ist der Sinn menschlichen Lebens? Die Antwort Europas wurde durchaus nicht zufällig von einem Engländer, John Locke, und durchaus nicht zufällig am Vorabend der industriellen Revolution gegeben: Der Sinn menschlichen Lebens ist das menschliche Leben selbst. Und zwar das lange, gesunde, materiell und immateriell wohlhabende und unterhaltsame Leben.
Das war und blieb die Triebfeder der industriellen Revolution. Die Menschen wollten immer länger und besser leben, und zwar bereits hier im Diesseits. Anfangs glückte dies nur wenigen. Doch nach und nach gelang es immer mehr. Die Zahlen sprechen für sich. Die Bevölkerungen Europas nahmen zahlenmäßig in unmittelbarer Abhängigkeit vom Grad ihrer Industrialisierung zu.
Nicht zuletzt deshalb begannen sie zu wandern. Zuerst die Briten, dann die Franzosen und immer so weiter, bis sich schließlich Europa von den Aleuten bis zu den Aleuten, vom Nordkap bis zur Antarktis erstreckte.
So wurde binnen weniger Generationen die Erde zu ihrem Markt, ihrer Rohstoffquelle und ihrer Müllkippe. Was sich heute in einem steilen Wohlstandsgefälle niederschlägt, ist die geradlinige und zwangsläufige Folge einer kontinuierlichen Entwicklung, die tief im Religiös-Philosophischen oder, moderner gewendet, im Ideologischen Europas wurzelt. Ohne diese Ideologie ist das Wesen modernen Wirtschaftens nicht zu erfassen. Mit jedem Wachstumsprozent – so die seit langem genährte Hoffnung – rückt das Ziel irdischer Entgrenzung näher.
Das Mißliche an diesem Ziel ist: Es ist objektiv unerreichbar. In einer endlichen Welt ist alles endlich. Es kann und wird deshalb keine irdischen Paradiese geben, zumindest keine Paradiese der Entgrenzung. Das noch Mißlichere aber ist: Just in dem Moment, in dem die Europäer das erkennen, beginnt weltweit die Saat ihrer Mission aufzugehen.
Über Generationen hinweg waren die zu Missionierenden den Missionaren gegenüber skeptisch bis ablehnend. Plötzlich aber gewinnen sie Spaß an der Sache. Mit großer Hingabe und Geschwindigkeit verinnerlichen immer mehr Völker die Maximen der industriellen Revolution. Selbst jene, die über deren religiös-philosophisch-ideologische Voraussetzung überhaupt nicht verfügen, versuchen, sie so gut wie möglich zu simulieren. Die Ideenwelt Europas erfährt jetzt eine späte, aber triumphale Anerkennung. Nur können sich die Europäer hierüber nicht mehr so recht freuen. Denn der Drall, den sie der globalen Entwicklung gegeben haben, führt in die Irre.
Die so typisch europäische Fragestellung „soziale Gerechtigkeit“ oder „ökonomischer Fortschritt“ ist eine Fragestellung von gestern. Milliarden von Menschen, die lange abseits standen, haben jetzt „ökonomischen Fortschritt“ mit allen Fasern verinnerlicht, und es dürfte eine Illusion sein, sie mit dem Hinweis auf „soziale Gerechtigkeit“ hiervon abzubringen. Für sie ist ökonomischer Fortschritt gleichbedeutend mit sozialer Gerechtigkeit. Sie an diesem Fortschritt zu hindern, wird deshalb von ihnen zwangsläufig als sozial ungerecht empfunden.
Damit befindet sich die Menschheit in einem existentiellen Dilemma. Ginge es nur um die Alternative „soziale Gerechtigkeit“ oder „ökonomischer Fortschritt“ – die Welt wäre zwar noch kein freundlicher, aber doch ein erträglicher Platz. Aber es geht um mehr: Es geht um die Frage, ob wir alle gemeinsam den ökonomischen Fortschritt, wie ihn die Europäer mit der industriellen Revolution auf den Weg brachten, überleben. Das klingt dramatisch. Aber es ist auch dramatisch.
Die Europäer sind mit der höchst unerfreulichen Tatsache konfrontiert, seit 200 Jahren und länger eine Botschaft verkündet zu haben, die weder verallgemeinerungs- noch zukunftsfähig ist. Wohin sie schauen, sehen sie – kulturell unterschiedlich verschnitten – Spiegelbilder ihrer selbst und ihrer Geschichte.
Bevölkerungsexplosion? Sie ist nur das verzögerte Echo auf die Maxime, der Tod des Menschen sei das größte aller Übel. Also werden die Menschen weltweit immer älter, zahlreicher und unfruchtbar. Mit einer Zeitverschiebung von zwei bis drei Generationen vollziehen sie nach, was die Europäer sie gelehrt haben. Der große Unterschied: Als die europäischen Völker expandierten, europäisierten sie die Welt. Wohin aber soll jetzt die Welt? Die Botschaft der Entgrenzung hat sich ad absurdum geführt.
Vernichtung von Regenwäldern? Wo sind denn die Wälder Europas? Europa war einmal ein riesiger Wald. In Europa sind praktisch alle Wälder durch Gehölze, Flußläufe durch Kanäle ersetzt. Weder gibt es eine natürliche Flora noch eine natürliche Fauna. Selbst der Mensch verkümmert zum Kunstprodukt virtueller Realität. Und auch soziale Gerechtigkeit ist nur so ein Wort. Oder ist es sozial gerecht, wenn ein Busfahrer in Krakau ein Viertel des Lebensstandards seines Leipziger und ein Fünftel desjenigen seines Düsseldorfer Kollegen genießt?
Es ist oft genug gesagt worden, aber deswegen ja noch nicht falsch: Weltweit können nur Minderheiten leben, wie Europäer heute leben. Nur Minderheiten können versuchen, in einer endlichen Welt Grenzen wenn schon nicht zu beseitigen, so doch weit von sich zu schieben. Versuchen das größere Bevölkerungsgruppen, ist des Schiebens schnell ein Ende. Genau das aber scheint sich hinter dem Postulat sozialer Gerechtigkeit zu verbergen: die ernüchternde Erkenntnis, daß das Entgrenzungsversprechen, das Europa gab, keinen größeren Wirklichkeitsgehalt hat als das von ihm selbst verschmähte Himmelreich. Prof. Meinhard Miegel
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