Das ABC in der Schule: Zurück zur guten Handschrift
In den Bundesländern herrscht die Kakofonie der Erstschriften. Jeder lässt anders schreiben, viele Kinder verpassen so den fundamentalen Lernvorgang: Handschrift.
Am Ende der vierten Klasse sollen die Kinder unserer Grundschulen "eine gut lesbare Handschrift flüssig schreiben". Das hat die Konferenz der Kultusminister mit den Bildungsstandards 2001 beschlossen. Dieser Auftrag wird weitgehend ignoriert. Dabei behindert eine unbeholfene Schrift das Lernen in fast allen Fächern, auch in Mathematik und Technik. Und Tippen kann das Schreiben nicht ersetzen. Was läuft schief?
Unsere Schulanfänger sind unterschiedlich gestimmt: Die einen sind zuversichtlich bereit, Neues zu lernen und sich anzustrengen. Andere sind ängstlich bemüht, nur ja nichts falsch zu machen, um Eltern und LehrerIn nicht zu enttäuschen. Manche sind überzeugt, alles werde ihnen mühelos zufallen, und was sie tun, das sei sowieso großartig. Viele sind verstört und verloren in einer fremdartigen Umgebung, deren Sprache und Ansprüche ihnen rätselhaft sind.
Buchstaben als das Sichere
Für alle ist der Schulanfang ein Aufbruch ins Unbekannte, dem sie gewachsen sein möchten. All diesen Kindern täte es gut, in der Schule bei Aufgaben anzukommen, die sie wirklich verstehen, die sie bewältigen können. Und an denen sie erleben, dass ihre Fertigkeiten wachsen, wenn sie sich darum bemühen. Das bietet ihnen ein konsequenter Unterricht im Schreiben der Buchstaben, wenn sie ihn denn bekommen.
An den Buchstaben in verbindlicher Schreibweise erfährt jedes Kind: Das hier kann ich noch nicht, aber ich will und ich werde es lernen! Ich bekomme mit den anderen genau gezeigt, wie ich das schaffe und wann ich das Ziel erreicht habe. Ich bin in einer gerechten Schule! Denn alle, gerade aber die Unbeholfenen erleben immer wieder: Unsere Lehrerin hilft uns. Sie verlangt von jedem einzelnen Kind, durchzuhalten. Ihre fürsorgliche Strenge sagt jedem: Du gehörst zu uns, du bist angekommen in einer Gemeinschaft von Lernenden! - Nichts ermutigt so zum Lernen wie diese Erfahrung. So könnte es überall sein. Vielerorts ist es nicht so.
Ungerechtigkeit und Entmutigung beginnen nicht nur mit Schultüten und Ranzen von protzig bis ärmlich. Einige Kinder verstehen genau, was die Lehrerin sagt. Weil sie ihre Sprache kennen und ihre Art, mit Kindern umzugehen. Anderen ist das alles fremd. Ungerechtigkeit wird schmerzlich und verwirrend offenbar, wenn die Kinder Blätter, auf denen sie ihre Tüte oder sich selbst gemalt haben, mit Namen kennzeichnen sollen. Ein Teil der Kinder kann den eigenen Namen längst schreiben - andere haben das noch nie versucht. Oder sogar die in der Schule geltenden Buchstaben noch nie bewusst gesehen. Zum Beispiel Karim, der seinen Namen bisher nur in arabischer Schrift kennt, die mit ganz anderen Buchstaben und von rechts nach links geschrieben wird.
An Karim und der Schreibweise seines Namens können wir ermessen, wie hoch die Hürde vor dem Weg in die deutsche Schriftsprache für Kinder ist, die täglich aus einer fremden Schriftumwelt kommen. Aber Theorie wie Praxis des Schriftspracherwerbs sind für diesen Aspekt der Integration noch weitgehend blind.
Mahmoud aus Ägypten hat mir erklärt: Das Wort "Wort" steht auf dem Papier in vier einzelnen Zeichen, geschrieben und zu lesen von links nach rechts. Schreibt man dasselbe Wort in arabischer Schrift, deren Zeichen nicht nur anders, sondern verbunden erscheinen und in Gegenrichtung - also von rechts nach links - geschrieben und gelesen werden, müsste es "Fort" gelesen werden, weil es in dieser Schrift kein Extrazeichen für "W" gibt. Übersetzt man das Wort ins Arabische, sieht es wieder anders aus und wird "KA-LI-MA" gelesen.
Es kommt noch hinzu, dass es im Arabischen jeden Buchstaben nur einmal, die Buchstaben des deutschen Alphabets aber jeweils doppelt - als Majuskel und als Minuskel - gibt und im Falle von "Wort" zwei Buchstabenpaare, W/w und O/o einander gleichen, die beiden anderen aber, R/r und T/t ganz ungleich geschrieben werden. - Wenn sie in der deutschen Schulschrift heimisch werden wollen, ähnelt die für Kinder aus deutschem Umfeld den Schriften, die sie daheim sehen, für Kinder aus arabischem Umfeld aber gar nicht. Ihre Vorerfahrungen mit Schrift helfen nicht, sie stören beim Lernen. Woran sollen sie sich halten?
Wenn man nicht weiß, was man gehört hat. Wenn man den Sinn vieler Wörter nicht greifen kann. Wenn man nicht verstanden hat, was man tun soll. Wenn man nicht begreift, was die Kinder ringsum reden. Wenn man im Schulalltag schwimmt, können Buchstaben, deren Schreibbewegung man zuverlässig erkennt und genau richtig folgen kann, Sicherheit geben. Ungenaue Buchstaben können das nicht.
Lieber gleich richtig
Mit einer einzigen großen Aufgabe könnten wir all unsere Schulanfänger herausfordern und nachhaltig ermutigen: "Lerne die Buchstaben unserer Schriftsprache mit der Hand so zu schreiben, dass sie dem Vorbild entsprechen, damit jeder sie mühelos lesen kann, du selbst sie nicht verwechselst, sie dir eines Tages ohne Nachdenken aus der Hand laufen, du dann mit Vergnügen alles schreiben kannst, was du nur willst, und sogar auf dein Geschriebenes stolz sein darfst." Das muss nicht gepredigt werden, aber die Lehrerin muss es leben.
Diese große Aufgabe teilt sich ganz natürlich in 53 Teilaufgaben beziehungsweise Teilziele: die 26 Buchstaben als Majuskel und als Minuskel, dazu das ß. Jeder einzelne Buchstabe ist ein Kunststückchen, das man sich aneignen kann. Je mehr man beherrscht, desto leichter gehts voran. Eine ideale Situation, weil jedes Kind erlebt, dass es sein wachsendes Können vor allem sich selbst verdankt, seinem eigenen, geduldigen, achtsamen Üben. Später entwickelt es seine Handschrift als zuverlässig brauchbares Handwerkszeug bei allem, was es für die Schule schriftlich festhalten, ausarbeiten oder vorweisen muss. Dank seiner selbst und der Meisterin oder dem Meister, die es rechtzeitig an die Hand genommen und nicht losgelassen haben, bis es die Schreibkunst sicher genug beherrschte, um sie aus eigenem Antrieb zu achten und zu bewahren.
Ein Jammer, dass solche "Schriftpflege" seit Jahrzehnten nicht mehr selbstverständlich ist in unseren Schulen! GrundschullehrerInnen werden im Westen Deutschlands schon lange nicht mehr fachgerecht für den Schreibunterricht aus- oder fortgebildet. Entsprechend verwahrlost sind die Handschriften in den Schulen. LehrerInnen klagen über flegelhafte und kaum lesbare Schriften. Eltern verzweifeln über den wüsten Hefteinträgen ihrer Kinder. Therapeuten bestätigen, dass LRS und Legasthenie mit einem fundamentalen Fehlen von Buchstabensicherheit verbunden sind. Kinder und Jugendliche schämen sich ihrer Handschrift, statt mit Stolz vorzeigen zu dürfen, was sie geschrieben haben.
Im Osten Deutschlands hat man die verlässliche Ausbildung für den Schreibunterricht erst mit der Wende eingebüßt, dazu die Extrazeit für Schriftpflege im Stundenplan. Zum Glück hat man dort an der eigenen Schreibschrift aus DDR-Zeiten, der SAS, festgehalten, und sich der verkorksten VA aus dem Westen verweigert. Schreibschriften seien hier aber nur am Rande erwähnt. Jetzt geht es in den Schulen um die Schrift, die Kinder in Ost und West schreiben lernen, wenn sie auch lesen lernen: die Druckschrift. Die heißt so, weil ihre Buchstaben denen der tatsächlich gedruckten Schriften weitgehend entsprechen und unverbunden nebeneinander stehen.
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