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Damals bei uns daheimStieftante Gisela

Kolumne
von Uli Hannemann

Erst mit über 40 Jahren stieß ich auf dem Dachboden zufällig auf eine skelettierte Leiche, die eine altmodische Damenhandtasche festhielt.

„Der Joghurt ist aber mal ordentlich Tante Gisela.“ Foto: jala / photocase.de

A ls dann doch relativ klar war, dass der Führer nicht zurückkommen würde, bekamen in der BRD die anderen Religionen neuen Auftrieb. Alle beteten plötzlich wieder, überall. Auch zu Hause wurde gebetet: morgens, mittags, abends.

Jeden Morgen beteten wir für die Stärke der D-Mark, die Vertriebenen aus Ost-, West- und Mittelpreußen sowie den neuen Quelle-Katalog. Mittags beteten wir, dass wir die Mahlzeit überlebten: „Lieber Gott, guter Mann, mach, dass man das fressen kann. Amen.“

Am Abend beteten wie für die Vertriebenen aus Schlesien, Transsylvanien und Schwäbisch-Patagonien, für die rasche Genesung der Homosexuellen und für den Sieg des Amerikaners gegen den Russen. Dann wäre Deutschland endlich wieder eins.

„Und, lieber Gott, mach, dass Stieftante Gisela wieder gesund wird. Amen.“ So endete das Gebet. Stieftante Gisela war längst gestorben, doch solche Düsterkeiten hielt man von uns Kindern fern. Erst mit über 40 Jahren stieß ich auf dem Dachboden zufällig auf eine skelettierte Leiche, die eine altmodische Damenhandtasche festhielt.

Fortan wurde „Tante Gisela“ bei meinen eigenen Stiefkindern zu einer Art geflügeltem Wort für alles längst Vergangene. Ist zum Beispiel das Verfallsdatum eines Lebensmittels abgelaufen, heißt es: „Der Joghurt ist aber mal ordentlich Tante Gisela“, und ist ein Kleidungsstück aus der Mode oder ein technisches Gerät nicht auf dem neuesten Stand, dann stöhnt unsere jüngste Stieftochter Beatella: „Hallo? Das ist ja so was von Tante Gisela!“

Art belgisches Kreol

Wir mussten jedenfalls nicht alles wissen – das war ein zentrales Erziehungsprinzip der Stiefeltern. War etwas nicht für unsere Ohren bestimmt, verfielen sie in eine Art belgisches Kreol, damit wir nichts verstanden: „Zoolen we de Steve-Kinderen balde zlachten …?“ Meist aber wurden wir vom Mittagstisch einfach direkt ins Bett, in den Keller oder an „die früsche Luft“ geschickt.

Auch in der Schule war Religion sehr wichtig. Wir lernten alles darüber, wie Gott seine Kinder im Wald verhungern ließ oder wie Jesus mit den sieben Zwergen seine Mahlzeit teilte. Einmal kam ich mit einer 7 in Religion nach Hause. Eine Sieben! Das hatte es in diesem Haus noch nicht gegeben. Das hatte es überhaupt noch nie gegeben. Ich hatte in einer Arbeit Gott mit dem Teufel verwechselt und katholisch mit evangelisch.

Der Lehrer konnte gar nicht anders, als dafür eine neue Note kreieren. Aus Angst vor Gott verkroch ich mich unterm Bett. Der war bestimmt sauer wegen dieser Teufelsache. Unter dem Bett lag viel Staub. Das machte mir Hoffnung.

Wenn Gott nicht sah, wie schmutzig es hier war, würde er vielleicht auch mich übersehen. Und so war es auch. Doch irgendwann hielt ich es vor Hunger nicht mehr aus und kam wieder hervor. Stieftante Gisela war offenbar weitaus konsequenter geblieben.

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