: Dalai Lama: Referendum statt Reinkarnation
Tibetischer Führer will Nachfolger wählen lassen, damit Peking Findung seiner Reinkarnation nicht manipulieren kann
DELHI taz ■ Gemäß tibetischer Tradition müssen Reinkarnationen früherer Dalai oder Pantschen Lamas in einer komplexen Prozedur von Orakeln und Ritualen identifiziert werden. Ist nach langer Suche die Reinkarnation endlich gefunden, muss der Auserwählte weitere Prüfungen bestehen. So geschah es beim heutigen Dalai Lama. Der Knirps in einem osttibetischen Dorf begrüßte die als Händler verkleideten Lamas, identifizierte die mitgebrachte Gebetsschnur, den Stock und die Brille des 13. Dalai Lama, bevor er in Lhasa als 14. Reinkarnation eingesetzt wurde.
So geschah es auch 1995, als der Dalai Lama in einem ähnlichen Prozess einen sechsjährigen Knaben als 11. Pantschen Lama einsetzte, den zweithöchsten Würdenträger im tibetischen Buddhismus. Er hatte dabei Chinas Führung ausgespielt, die selbst einen Findungsprozess eingeleitet hatte, um einen ihr genehmen Nachfolger zu finden. Peking erkannte den vom Dalai Lama eingesetzten Pantschen jedoch nicht an, nahm den kleinen Choekyi Nyima in Hausarrest und fand einen anderen Pantschen im Sohn eines KP-Kaders. Nyima ist seither verschwunden.
Als höchster tibetischer Würdenträger genießt der Dalai Lama hohes internationales Ansehen – seine einzige Waffe. Offenbar will Chinas Führung warten, bis der 72-Jährige stirbt, bevor sie der „spalterischen Clique“ am Exilsitz im indischen Dharamsala endgültig den Garaus macht. Im August dekretierte sie, sein Nachfolger müsse von Peking genehmigt werden.
Auch der Dalai Lama weiß, wie wichtig er für das Überleben der tibetischen Kultur ist. Am Dienstag schlug er vor, seinen Nachfolger statt per Orakel durch Volksabstimmung zu bestimmen. Im indischen Amritsar sagte er: „Wird meine körperliche Kondition schwach, sollten ernsthafte Vorbereitungen für ein Referendum getroffen werden.“ Letzte Woche hatte er in Japan erklärt, wenn die Tibeter den Dalai-Lama-Brauch behalten wollten, könne er sich eine Nachfolgewahl zu Lebzeiten vorstellen. Für einen Führer, der kurz nach der Flucht 1959 eine demokratische Struktur für die Exilgemeinde etablierte und sogar seine Absetzung oder weibliche Reinkarnation vorsah, ist das nur logisch. „Falls China nach meinem Tod einen Nachfolger bestimmen würde, würde ihn das tibetische Volk nicht unterstützen“, erklärte er. Der plötzlich traditionsbewusste Pekinger Außenamtssprecher sagte am Dienstag gereizt, eine Wahl des Dalai Lama „widerspricht den religiösen Bräuchen und historischen Traditionen“. BERNARD IMHASLY