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Archiv-Artikel

Da ist alles noch drin

Edeltraud Frey ist Strafverteidigerin. Häufig vertritt sie die besonders schweren Fälle. Diejenigen, bei denen es das Publikum in den Gerichtssälen gruselt. Nur sie nicht

VON MAREKE ADEN

Sie muss weiter arbeiten. Sie ist achtzig Jahre alt. Aber sie ist Anwältin, und für den Berufsstand gibt es keine Altersgrenze, das ist der erste Grund. Der zweite lautet ungefähr: Wer schon so viele Freisprüche rausgeholt hat, und das in den für alle kapitalen Verbrechen zuständigen Kammern, die ehrfürchtig Schwurgericht genannt werden, der hat im Gefängnis einen Namen unter Mördern und Vergewaltigern. Von Edeltraud Frey vertreten zu werden ist die halbe Miete, Notwehr, Rücktritt, mildernde Umstände, da ist alles noch drin.

Ihr Mandant Thomas R. hat alles in allem sieben Leute umgebracht. Sechs waren Frauen, die vergewaltigte er vorher noch, die meisten waren nichtsahnende Rentnerinnen. Eine Pfarrerstochter wurde auf einem Neuköllner Spielplatz sein Opfer, die hatte ihn mit den Worten „Ich bin lesbisch“ noch umzustimmen versucht. Das hat er in seinem Geständnis berichtet und gleich erklärt, warum sie damit keinen Erfolg haben konnte: „Na, das hat mich ja nun gar nicht interessiert.“ Als er dann im Gefängnis saß, kam ein Mitgefangener mit dem Leben knapp davon. Auf den war Thomas R. wütend.

Mit anderen Worten: Der Mandant von Edeltraud Frey ist kein netter Mensch. Trotzdem hat sie ihn immer vertreten, auch in seinem letzten Prozess vor einem Jahr. Er wollte es so. „Er muss langsam mal aufhören damit, dann kann ich auch aufhören“, hat sie nach der Urteilsverkündung – noch mal zehn Jahre auf das „lebenslänglich“ obendrauf – auf dem Gang vor dem Gerichtssaal gesagt. Sie war müde. Zuvor hat Edeltraud Frey ein Plädoyer gehalten, das dem Richter die Tränen in die Augen trieb, das den Staatsanwalt verstummen und die Zuschauer schwer schlucken ließ. Dabei war sie zu keinem Zeitpunkt rührselig, darüber könnten die Juristen noch hinwegwischen. Nein, ihre Sprache ist schlicht, die Rede einer Juristin. Sie endet so: „Thomas R. ist ein Mensch, der unter Thomas R. leidet.“

Das ist ihr Trick. Sie nimmt den Leuten die Bestie weg, an die sie glauben müssen, weil das große Verbrechen sonst zu unheimlich wäre. Sie gibt den sensationslüsternen Journalisten und den strafgewohnten Juristen einen Menschen zurück. Sie erzählt, dass Thomas R. Geld, das er bekommt, an seinen Sohn weiterleitet. Sie ruft die letzten Worte des Angeklagten im vorherigen Prozess um die vielen Morde in Erinnerung: „Lasst mich nie mehr raus, ich kann für mich nicht einstehen.“ Sie würde nie sagen, dass die Grausamkeit des Mörders zu entschuldigen ist, aber sie zeigt, dass auch der Mörder selbst sie nicht entschuldigt, dass er sie genauso wenig versteht wie wir, wenn wir von seinen Taten erfahren.

Dass sie das kann, ist ihr selbst manchmal unheimlich. „Ich komme mir ja fast vor wie ein Monster, dass ich den sympathisch finde“, sagt sie. Sie trägt ein schickes, schlichtes Kostüm, sitzt sehr aufrecht, ihr Blick richtet sich auf einen Punkt auf dem Schreibtisch. Sie denkt nach über die Frage, warum sie die Monsterwerdung eines Menschen nicht nachvollziehen kann. Dann sagt sie: „Ich krieg’s einfach nicht hin, den Ekel zu finden.“ Das hat sie oft bewiesen. Wenn sie im Gefängnis zu ihren Mandanten geht, dann wollen die Wärter gern dabei bleiben. Denen hat sie immer gesagt: „Lasst das mal lieber.“

„Wenn er nicht irrsinnig ist, warum sollte er mir was tun?“, fragt sie. Dann denkt sie über die Bedingung nach, die sie selbst da gerade aufgestellt hat: nicht irrsinnig zu sein. Das ist bei Mördern und Vergewaltigern nicht gesichert. Kurze Pause: „Na gut, und wenn er verrückt ist, dann kannste eh nüscht mehr machen.“ Wenn man sich die Liste ihrer Erfolge anschaut, dann muss der Strafgefangene, der ihr an den Kragen will, aber tatsächlich schon recht durchgeknallt sein.

„Voriges Jahr hatte ich noch mal zwei Freisprüche“, sagt sie gelassen. Man sollte dazusagen, dass sie in dem Jahr kein eigenes Büro in ihrer Kanzlei mehr hatte und dass sie nur donnerstags arbeitete. Im einen Fall stritten zwei Luden „um irgendeine Madame“, und als der eine Zuhälter – „Das war meiner“ – im Kampf unter dem anderen lag, gewürgt wurde und keine Luft mehr bekam, da hat er in den anderen ein Messer gerammt. Dem anderen erging es dann nicht gut, das sei schon richtig, der Staatsanwalt wollte deswegen neun Jahre, aber es war „’ne glatte Notwehr“ findet Edeltraud Frey. Man kann nur wenig Genugtuung in ihrer Stimme hören, als sie ihren Prozessbericht mit „Das Gericht hat sich meiner Meinung angeschlossen“ endet. In der anderen Sache war ein Haar ihres Mandanten auf dem Bett der ermordeten Gelegenheitsprostituierten das einzige Beweisstück. Ausgang dieser Geschichte: „Das hat nicht gereicht.“

Sie sagt das mit dem Stolz des Ehrgeizigen, der am Ende sein Ziel erreicht hat. Es geht nicht um Weltverbesserertum oder Helfersyndrom, sie ist nicht die Frau, die aus allen Tätern Opfer macht. „Lebenslänglich“ ist notwendig, und wenn einer es verdiente, dann hat er es bekommen, in ihrer Laufbahn hat sie das fast immer so erlebt. Es ist auch nicht so, dass sie Mörder mit üblen Tricks freiboxen wollte.

Nur einmal ist etwas schief gelaufen. Da hat einer mit ihrer Hilfe ein drittes Mal Bewährung bekommen. Sie war zufrieden, fuhr in den Urlaub – und als sie wiederkam? Da hatte der Mann bei der Nachbarin eingebrochen, war von ihr erwischt worden, hatte sie umgebracht, ist ein paar Tage später zurückgekehrt, um noch ein paar Sachen zu holen, da krabbelte ihm das Baby der Frau entgegen. Er hat ihm auf den Kopf getreten. Pause. „Da kannste doch nüscht mehr sagen.“ Pause. „Was will man dazu noch sagen.“ Pause. „Was hat du da geredet und gemacht – und dann macht der so was.“

Sie hält es ansonsten mit der einfachen Verteidigerdevise, dass die Verteidigung erstens nicht die Tat gutheißt und dass sie zweitens dazu da ist, sicherzustellen, dass Taten nur mit rechtlichen Mitteln nachgewiesen werden. Deswegen kann sie auch mit feministischen Einwänden gegen die Verteidigung von Vergewaltigern oder Zuhältern nicht viel anfangen. Und das obwohl sie lieber Emma hieße, ihren Vornamen Edeltraud mag sie nicht – „klingt so nach edel und traut“. „Zuhälter? Aber immer, mit Kusshand, die bringen doch das Geld, wenn ich immer nur Zuhälter gehabt hätte, wär’s mir gut gegangen.“ Sie ist mit ihrer ersten Rechtsanwaltsgehilfin auch mal in einen Puff gegangen, um ein Bier zu trinken. „Da saßen wir zwei alten Weiber dann. Ist aber alles nicht besonders aufregend.“

Von Sensation und Mordgezeter hält sie nichts, Nonchalance ist eher ihre Sache. Auf die Frage, ob sie auch mal politische Mandate gehabt hat: „Jo, wenn man die Mauerschützenprozesse politisch nennen will.“ Und wie war das als Verteidigerin in den bewegten 70ern? „Ja sicher, da habe ich diese RAF-Terroristin, wie hieß die doch gleich, eine nette, reizende Frau jedenfalls.“ Wie bitte? „Ja, da hat der Otto den Mahler verteidigt. Otto war immer gut drauf. Der war gegen alles. Und jetzt kann er nicht genug kriegen mit seinem Abgehöre und was weiß ich.“

Aber dass man dem Innenminister Otto Schily immer noch unterstelle, er hätte Kassiber aus dem Gefängnis geschmuggelt, das findet sie lachhaft: „Das konnte der sich doch merken, was die ihm gesagt haben, das mussten die doch nicht aufschreiben. So blöde ist er nicht!“ Weil sich aber die Hochachtung vor Otto Schily nur noch auf seine Intelligenz bezieht, hat sie ein Briefchen unterschrieben, mit dem ihn die Berliner Strafverteidigervereinigung ausschloss. In dessen Vorstand macht sie mit. „Na, das wird ihn aber geärgert haben“, sagt sie und lacht leise.

Ansonsten ist sie auch ihren Kollegen gegenüber tolerant. Im Fall des ehemaligen RAF-Terroristen Horst Mahler argumentierte sie in der Anwaltskammer für seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt, damit er nach zehn Jahren Haft wieder arbeiten konnte. „Das war ein Fehler“, sagt sie heute. Horst Mahler muss schon wieder ins Gefängnis, diesmal wegen rechter Propaganda für die NPD. „Da saß er nun so lange im Gefängnis“, sagt Frey, „gebessert hat es ihn auch nicht.“

Wenn man also wie Edeltraud Frey 80 ist und als Verteidigerin die gesamte Strafrechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einmal mitgemacht hat, dann kann man auch Auskunft darüber geben, wie sich die Strafen verändert haben. „Es gibt Auf-und-ab-Bewegungen“, sagt sie. Einmal in den 70ern wegen der RAF und jetzt gerade wieder wegen al-Qaida. „Es sind wohl immer die Terroristen, die den Ärger ins Spiel bringen.“ Ansonsten findet sie das Strafsystem ganz okay. Dass in den 70ern viel geändert wurde, kann sie auch nicht schlimm finden. Sie sagt, sie kann sich an die alten Paragrafen nicht einmal erinnern, also können die neuen doch so fürchterlich nicht sein. Und davor hätten es beide Seiten ein bisschen übertrieben. Die RAF-Anwälte hätten nach jedem Satz einen Befangenheitsantrag gestellt. „Da sind die Richter naturgemäß sauer geworden.“

Sie hat sich rausgehalten. Das hat sie immer so gehalten. Sie war nicht beim Bund Deutscher Mädel der Nazis, sie hat später zwar sozialistisches Recht gelernt, aber ohne Sozialistin zu sein. Später war sie auch nie in einer westdeutschen Partei. Eigentlich ist sie so auch Rechtsanwältin geworden, weil sie sich raushalten wollte. Als die Nazis sie nämlich am Ende des Krieges zum Arbeitsdienst eingezogen hatten, da gab es für alle, die studieren wollten, Sonderurlaub. „Drei Tage lang! Na klar wollte ich da studieren.“

Aber die Schauspielschulen hatten schon dicht. Und in den Theaterwissenschaften saß vorne ein Professor Dovifat und um ihn herum nur Frauen, und denen erzählte er nicht besonders interessante Dinge. Im Saal daneben dagegen saßen lauter schmucke Burschen. „Das sieht ja ganz hübsch aus hier, das könnte ich mal machen“, dachte sie und ließ sich auch nicht vom zweiten Blick abschrecken, der die Kriegsversehrungen der Jungs offenbarte. Es war Jura.

MAREKE ADEN, 30, lebt als Rechtsreferendarin und freie Journalistin in Berlin