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Archiv-Artikel

DVDESK Mit der Pünktlichkeit gerechnet

Claude Lanzmann: „Sobibor, 14. Oktober 1943“, F 2001, 95 Min.; „Ein Lebender geht vorbei“, F 1997, 65 Min., Absolutmedien, 19,90 €

Ein einziges Mal ist ein Aufstand der Insassen in einem Konzentrationslager geglückt. Das Ereignis ist so singulär, dass Claude Lanzmann es aus seiner „Shoah“-Dokumentation herausgelöst und ihm einen eigenen Film gewidmet hat. Dessen Titel nennt nichts weiter als Ort und Zeit des Geschehens: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“.

An diesem Ort, zu dieser Zeit, betrat ein deutscher SS-Offizier die Schneiderwerkstatt des Lagers in Sobibor. Yehuda Lerner, 17 Jahre, sitzt da mit der Axt unter dem Mantel. Eigentlich, so der minutiös ausgearbeitete Plan, soll er nicht diesen, sondern den fünf Minuten später erwarteten SS-Mann töten. Weil der erste Mann ihm näher rückt als dem vorgesehenen Täter, nimmt Lerner die Axt in die Hand und spaltet dem Schergen den Schädel.

Es ist das Jahr 1979. Claude Lanzmann spricht mit Yehuda Lerner, der schon, bevor er nach Sobibor kam, Einzigartiges erlebt hat. Im Verlauf eines halben Jahres floh er acht Mal aus verschiedenen Konzentrationslagern. Er wurde jedes Mal gefangen, entging stets aufs Neue der Hinrichtung, erkrankte an Typhus und überlebte auch das. Er hatte den Mut der Verzweiflung und er hatte unfassbares Glück. Von 1.200 Leuten, mit denen er dann nach Sobibor kam, wurden nur 60 nicht auf der Stelle getötet, weil man ihre Arbeitskraft brauchte. Binnen sechs Wochen entwarf einer der 60, der sowjetische Offizier Alexander Petscherski, den Aufstandsplan, der nur funktionieren konnte, weil die deutschen Aufseher auf die Minute pünktlich waren.

Lanzmann verzichtet wie in „Shoah“ vollständig auf Aufnahmen aus den Archiven. Er filmt die Orte, von denen Lerner berichtet, in der Gegenwart der Entstehung des Films – es ist das Jahr 2000, in dem der Regisseur auf das 20 Jahre davor aufgenommene Interview zurückkommt. Vielfach stehen heute Mahnmale an Orten des Verbrechens. Als Lerner erzählt, dass in den Lagern Gänse gehalten wurden, die mit ihrem Geschnatter die Schreie der Hingemordeten übertönen sollten, sieht man Gänse im Bild, die schnatternd im Kreis laufen. Es wäre falsch, das als Illustrationsversuch zu verstehen. In der stumpfen Buchstäblichkeit der nachträglichen Aufnahmen führt Lanzmann gerade die Unmöglichkeit vor, sich ein Bild zu machen von dem, was geschah.

Yehuda Lerner leugnet das befriedigende Rachegefühl nicht, das er bei der Tötung des SS-Manns empfand. Im Vorspann des Films weist Lanzmann in einem Text, den man als durchlaufende Schrift sieht und den er spricht, auf die Grenzen von Mahnmalen und Museen hin. „Das lebendige Wort“ eines Zeugen soll der Film in Bild und Ton bewahren. Das tut er. In Schrift und Ton werden am Ende die nach Ortsnamen aufgeschlüsselten Zahlen der bis 1943 nach Sobibor Deportierten benannt.

Ein weiteres Interview, ebenfalls 1979 zunächst für „Shoah“ entstanden, steht im Zentrum des zweiten Films auf der DVD. Hier spricht einer freilich aus ganz anderer Perspektive. Maurice Rossel war als Delegierter des Roten Kreuzes im Jahr 1944 sowohl in Theresienstadt als auch in Auschwitz. Auf seine Begegnung mit den erloschenen Muselmanen des Vernichtungslagers bezieht sich der Titel des Films: „Ein Lebender geht vorbei.“ Rossel wird in Auschwitz von einem Kommandanten freundlich empfangen. Von der Vernichtung sieht Rossel, sagt er, keine Spur.

Eine tödliche Farce ist der Besuch im eigens dafür herausgeputzten Theresienstadt. Rossel wird durch ein Potemkin’sches Dorf geführt und ahnt nichts von der Mordmaschinerie hinter den Kulissen. Schwer fassbar ist die Selbstgefälligkeit, mit der er sich noch im Jahr 1979 über die allzu servilen und ihm privilegiert vorkommenden Juden erregt. Lanzmann beendet den Film, der neben Bildern aus dem Terezín der Gegenwart meist Rossel zeigt, mit einer Einstellung auf sich selbst. Es will einem nicht als Eitelkeit vorkommen, sondern als schamhafte Abwendung von einem Mann, der kein Täter ist, aber einer, der sich blenden ließ und bis 1979 jedenfalls nicht sehen will, welche Mitverantwortung er am Nichteinschreiten gegen das Menschheitsverbrechen trug. EKKEHARD KNÖRER