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Archiv-Artikel

DURCH IHRE STREIKS LERNEN DIE ÄRZTE, DASS SIE ARBEITNEHMER SIND Willkommen in der Wirklichkeit

Es ist ein bizarrer Streik, den die Mediziner heute an den kommunalen Kliniken beginnen: Selbst den Ärzte-Funktionären vom Marburger Bund ist klar, dass sie nur magere Verhandlungserfolge erzielen können. Trotzdem wird der Machtkampf eskaliert. Offenbar sind die Mediziner so verzweifelt, dass jeder Streik besser ist als keiner.

Das hat auch mit der Vorgeschichte zu tun: Der Marburger Bund kann nicht erst mit großem Gedöns die Tarifgemeinschaft mit Ver.di kündigen, Prozesse anstrengen und Tarifgespräche mit den kommunalen Arbeitgebern führen, ohne dass dabei zumindest ein Achtungserfolg herauskommt. Allerdings wird der Marburger Bund zunehmend bescheidener bei der Frage, was als symbolischer Sieg gelten kann. Chef Montgomery ist schon stolz, dass er als Tarifpartei überhaupt ernst genommen wird. Längst geben die Ärzte zu, dass sie gar nicht mehr für höhere Löhne streiken – sondern für das „Recht auf eine eigene Gewerkschaft“.

Übersetzt heißt das: Die Mediziner wollen ihre Identität als Elite zurückerobern, wollen sich nicht mehr machtlos fühlen. Denn Ärzte sind erpressbar geworden. Das zeigt etwa die Drohung, ins Ausland abzuwandern, wenn hier das Gehalt nicht stimmt. Doch so einfach ist der Exodus nicht: 2005 arbeiteten in Großbritannien 2.600 deutsche Ärzte, in Norwegen waren es 650 und in Schweden 708. Besonders dringend wartet die Welt nicht darauf, unzufriedene Ärzte aus der Bundesrepublik wegzukaufen. Als heißer Tipp gelten daher momentan die Vereinigten Arabischen Emirate.

Gerade weil die Streiks so bizarr und so erbittert sind, lernen die Ärzte dabei: Widerwillig müssen sie erkennen, dass sie die soziale Lage der Restgesellschaft nicht ignorieren können. Schließlich werden die Ärzte von den Arbeitnehmern bezahlt – und deren Bruttolohnsumme sinkt. Wenn Kinder- oder Assistenzärzte mehr verdienen sollen, dann müssen Radiologen oder Chefärzte auf Privilegien verzichten. Insofern wirken die Streiks anders als von Montgomery geplant: Die Ärzte sind als selbsternannte Elite gestartet und als normale Arbeitnehmer gelandet. ULRIKE HERRMANN