piwik no script img

DOKUMENTATIONEin Plädoyer für Berlin als Sitz der Regierung

■ Auszüge aus einem Memorandum des Bundespräsidenten

Gemäß Einigungsvertrag ist Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Bisher ist unklar, was das politisch bedeuten soll. Das Wichtigste ist der Sitz der Verfassungsorgane. Darüber soll der Gesetzgeber entscheiden. Sein Votum wird folgenreich in die ferne Zukunft hineinwirken. [...]

Erfahrungsgemäß verlaufen Hauptstadtdebatten außerordentlich kontrovers. Politische Führung wird dadurch nicht leichter. Dennoch ist politische Führung gerade auch in diesem Streit von elementarer Bedeutung. Sie kann sich zwar nicht vornehmen, ein ganz bestimmtes Ergebnis durchzusetzen; denn über unverrückbar kontroverse Interessen kann letzten Endes nur durch Abstimmung entschieden werden. Die Hauptstadtfrage ist aber keine ethische Grundsatzfrage, die deshalb dem Gewissen eines jeden allein überlassen bleiben müßte. Vielmehr erfordert sie eine klare Erkenntnis der weitreichenden politischen Folgen. Sie hängt zentral mit der Politik zusammen, die Deutschland langfristig machen muß und wird.

Darüber Auskunft zu geben, ist Aufgabe politischer Führung. Sie muß ihr Zukunftsbild entwickeln und vertreten; sie muß auf diese Weise dafür sorgen, daß im Bewußtsein der großen politischen Herausforderungen entschieden wird, vor denen wir stehen, und nicht mit bloßem Status- quo-Denken.

Die Fragen, um die es geht, lauten: Wie sieht die politische Landkarte Europas in 20 Jahren aus? Welche verantwortliche Rolle fällt dem vereinigten Deutschland dafür zu? Hat dies Auswirkungen auf die Hauptstadt? [...]

Die fünf neuen Bundesländer müssen und können einen entscheidenden Beitrag für die europäische Entwicklung leisten. Die Skandinavier werden im europäischen Wirtschaftsraum wie früher direkte Wege nach Süden suchen. Der Kontakt zwischen den Ostsee- und Mittelmeerländern wird lebendig. Polen und die ČSFR werden sich mit Nachdruck nach Westen orientieren. Interessenten aus Übersee werden sich nach günstigen Standorten im zentral vergrößerten Europa umsehen.

Nicht nur Sachsen und Mecklenburg, sondern auch Brüssel braucht Berlin als Drehscheibe. Den Raum Berlin für diese Rolle planmäßig zu qualifizieren und zu stärken, liegt im weitsichtigen Interesse Europas nicht weniger als im deutschen. In ihr wird sich die europäische Zukunftsperspektive für ganz Deutschland in erster Linie finden.

Berlin ist für seine weit in die Zukunft weisende Aufgabe durch seine Lage und Größe ausgerüstet. Im übrigen aber fehlt ihm zur Zeit das meiste. [...] Berlin ist also zur Zeit voller wirtschaftlicher Defizite und sozialer Engpässe. Deutschland wird es sich jedoch überhaupt nicht leisten können, Berlin zum Musterbeispiel politischer Sozialhilfe verkommen zu lassen. Selbstverständlich muß sich Berlin primär mit allen eigenen Kräften selbst helfen. [...] Berlin Funktionen zu geben, wird teuer. Berlin Funktionen zu verweigern, wird letzten Endes noch teurer. [...]

Zu einer Aufteilung der Verfassungsorgane auf Bonn und Berlin kann ich nicht viel hinzufügen. Groß sind die Möglichkeiten dafür nicht. Ich glaube freilich, daß man eine Stadt nur Hauptstadt nennen kann, wenn wenigstens zwei Verfassungsorgane dort residieren und arbeiten.

Eines sollte klar sein: Zur Dekoration einer sogenannten Hauptstadt, der alle anderen Verfassungsorgane fernbleiben, kann der Bundespräsident allein nicht dienen. Er hat zwar noch einen Sitz in Berlin, aber er kann nicht mit seiner ganzen Behörde zum Zwecke einer optischen Täuschung allein nach Berlin ziehen, um dort einer politisch-optischen Täuschung Vorschub zu leisten. [...] Die Entscheidung des Gesetzgebers muß langfristig in die Zukunft orientiert und sie muß ehrlich sein. Er darf sich nicht um eine wahrhaftige Antwort auf die Frage herumdrücken, was denn unter »Hauptstadt Berlin« zu verstehen ist. [...] Richard von Weizsäcker

Entnommen der heute erscheinenden Ausgabe des 'Spiegel‘.

Siehe auch Seite 4 und 10.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen