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DOKUMENTATIONÜber eifrige Geschichtsschreiber und ihre Fälscher

■ Der AL-Jugendstadtrat im Bezirk Neukölln, Micha Wendt, zur Stasi-Arbeit Dirk Schneiders/ Warnung vor Versuchen der Geschichtsfälschung / Schneider-Gegner Bernd Köppl lobte noch 1979 die DDR als Arbeiterparadies

Da Dirk Schneider offensichtlich kein bezahlter Spitzel war, der von seinen Auftraggebern beliebig einsetzbar war, sondern seine Tätigkeit offenbar in keinem prinzipiellen Widerspruch zu seinen Auffassungen stand, wird zu Recht die Frage gestellt, wie wir das in unserer politischen Geschichte einzuordnen haben. Deshalb halte ich die von der Landesdelegiertenkonferenz formulierte politische Entschuldigung für richtig und wichtig. Dies beziehe ich durchaus auch auf mich selbst, gerade weil ich in deutschlandpolitischen Fragen in politischer Gegnerschaft zu Schneider gestanden habe. Politische Verantwortung tragen wir nicht, weil Schneider Stasi-Mann war, sondern weil selbst AL-Mitglieder wie Bernd Köppl und ich — trotz unserer Gegnerschaft zu Schneiders Auffassungen — toleriert haben, daß er in verantwortlicher Position Politik für uns macht. Wenn uns diese Verantwortung erst durch seine nun offenbarte Stasi-Zuarbeit deutlich wird, ist das gefährlich spät.

Einige, und hierbei hat sich Bernd Köppl beklagenswert hervorgetan, scheinen den Fall Schneider nutzen zu wollen, um eine neue Geschichtsfälschung festzuschreiben. Wer wie er behauptet, Mitte der 80er Jahre hätte eine Stasi-Ideologie die AL politisch beherrscht, teilt nur rückwirkend in Gut und Böse, erklärt sich blitzschnell zum Opfer, ohne über eigene Verantwortung nachzudenken.

Ein wenig besser scheinen diejenigen dazustehen, die als Konsequenz aus Schneiders politischen Erfolgen die AL verlassen haben. Doch auch hier scheinen mir Zweifel angebracht. Viele, die in den ersten AL-Jahren deutschlandpolitisch gegen Schneider standen und die sich jetzt wieder äußern, stammen aus dem Umfeld der ehemaligen maoistischen KPD. Wenn sie mit ihren heutigen Behauptungen, Schneider hätte quasi Stasi-Auftragsarbeit gemacht, recht haben, dann müssen sie sich mit der Frage auseinandersetzen, warum Schneider in der AL-Gründungsphase 1978 so sehr gegen ihre Ausgrenzung aufgetreten ist.

Doch dieser Blick in die Gründungsphase trifft Bernd Köppl nicht, weil er nun wirklich nicht dem Verdacht ehemaliger KP-Nähe unterliegt. Damit wäre er nun beinahe ein ganz richtiger und historisch abgesicherter Kämpfer gegen das SED-Regime, wenn, ja wenn ihn sein damaliger Kampf gegen KPD-Positionen nicht zu folgenden Formulierungen getrieben hätte:

»In der DDR sind die Kapitalisten enteignet, damit hat die DDR erst die Möglichkeit, eine relativ krisenfreie Ökonomie zu entwickeln und den Lebensstandard der Bevölkerung kontinuierlich anzuheben.«

»Unzensierte Publikationsmöglichkeiten, freie Meinungsäußerung, ungehinderte Ausübung der demokratischen Rechte sind wichtig und müssen verteidigt werden. Trotzdem sei die Feststellung erlaubt, daß deren Verteidigung für die Intellektuellen mehr im Vordergrund steht als die Probleme der materiellen Absicherung der Mehrzahl der Arbeiter und Angestellten.«

»Wir kennen keine Organisation in der BRD und Westberlin, die ähnlich konsequent und kontinuierlich antifaschistische Arbeit wie die DKP/ SEW seit dem 2. Weltkrieg bis heute geleistet hat. Diese antifaschistische Linie stützt sich auf die antikapitalistischen Inhalte der SEW-Politik.« (alles zitiert aus dem 4. Mitgliederrundbrief der AL/1979)

Die politische Geschichte vieler »Linker«, die sich in der AL engagierten, hat aus vielfältigen Gründen manche Phase durchlaufen, die wir heute rückblickend teilweise als peinlich oder gar verwerflich empfinden. Dies wirft uns nicht auf eine Ebene mit jemandem, der sich offensichtlich für seine Arbeit bezahlen ließ und zumindest billigend in Kauf nahm, daß Menschen durch seine Tätigkeit unmittelbar Opfer staatlicher Unterdrückung wurden. Aber um ehrlich das Bündnis mit den Menschen aus den Bürgerrechtsbewegungen der ehemaligen DDR einzugehen, wird es nicht ausreichen, mit dem Finger auf Dirk Schneider zu weisen. Wer die Aufarbeitung der Geschichte damit beginnt, sich selbst davonzustehlen, wird ernsthaft zu ihr nicht in der Lage sein. Micha Wendt

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