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DOKUMENTATIONIgnoranz tötet

■ Schwule und Fixer kämpfen um ihr Überleben

Aids geht jeden an!“, so springt es einem seit geraumer Zeit von allen Litfaßsäulen entgegen, tönt es aus Radios oder Fernsehgeräten — wenn es tönt. Denn eigentlich ist die Katastrophenkonjunktur längst über die Immunschwächekrankheit hinweg. Jede/r hat seinen/ihren kleinen Schauer, der ihm oder ihr über den Rücken lief, und man benutzt nun Kondome oder läßt es. Aber manche geht Aids mehr an als „jeden“. Seit dem Beginn der Aids-Krise kommen in den westlichen Industrieländern über 80 Prozent der Kranken und der Toten aus den Hauptbetroffenengruppen der Schwulen und der Fixer.

Allein unter den geschätzten 100.000 schwulen Männern in West-Berlin, so vermutet man, ist jeder fünfte HIV-infiziert: das wären 20.000 Menschen. Bei der kleineren Gruppe der 8.000 Berliner FixerInnen wurden Infektionsraten zwischen 30 und 60 Prozent festgestellt. Wie viele dieser HIV- positiven Berliner letztlich überleben werden, kann heute noch niemand sagen. Aids — das ist der Inbegriff der sozialen Katastrophe für die Hauptbetroffenengruppen. Diese Katastrophe stoppen könnten nur politische Anstrengungen für Schwule und Fixer, Aids-Politik für und mit ihnen sein. Zur Zeit ist sie alles andere als das.

Aus der Aids-Aufklärung der Bundesregierung fallen die Hauptbetroffenengruppen schon immer heraus. Kein Plakat, kein Fernseh- oder Kinospot, der ihnen eine Botschaft mit auf den Weg gibt oder ihre Lebensstile berücksichtigt. Gerechtfertigt wird dies mit der Aufgabenteilung zwischen Staat und Selbsthilfegruppen. Doch die Aids-Hilfen werden an der kurzen Leine gehalten.

Seit 1984 hat das Bundesforschungsministerium nach eigenen Angaben genau 34,2 Millionen Mark für Aids-Forschung ausgegeben: eine lächerliche Summe. Von diesen 34,2 Millionen gingen nur 11,7 Millionen wirklich in die Therapieforschung. Allein 8,2 Millionen wurden für die Weiterentwicklung des HIV-Tests ausgegeben.

Aktuelle Zahlenvergleiche machen deutlich, welche „Priorität“ Bonn der Bewältigung der Aids-Krise einräumt. Kürzlich verkündete Minister Riesenhuber den Einstieg der BRD in die Weltraumfahrt. Bis zum Jahr 2000 will die Bundesregierung sich die All-Reise bis zu 30 Milliarden Mark kosten lassen. Wie wäre es, wenn man in Bonn für die Aids-Forschung bis zum Jahr 2000 auch nur ein Zehntel dieser 30 Milliarden investieren würde? „Hätten 40.000 weiße Hausfrauen in den Vorstädten diese Krankheit, sie hätten schon längst die Budgets geöffnet“, stellte der Pop-Sänger Sylvester kurz vor seinem Tod fest. „Jede Seuche unter Katzen und Hamstern hätte mehr Mitleid ausgelöst, als es Aids gegenüber seinen menschlichen Opfern vermag.“

Darf man eine solche Politik Mord an den Hauptbetroffenen der Aids-Krise nennen? Man darf es nicht, denn Mord ist im juristischen Sinne eine vorbereitete Handlung zur Tötung anderer. In der Aids-Politik ist aber das Problem gerade, daß eben nicht (im ausreichenden Maß) gehandelt wird. Ignoranz tötet — nie stimmte dieser Satz mehr als bei Aids.

Warum unterbleibt der Protest der Betroffenen? Die einen — die Fixer — können nicht schreien: sozial deklassiert und isoliert, haben sie in diesem Lande keine Stimme. Und die Schwulen haben Angst. Angst vor neuer Verfolgung nach einer kurzen Zeit der Befreiung. Angst sitzt tief.

In wenigen Wochen jähren sich Ende Juni die Ereignisse der New Yorker Christopher Street, der militante Widerstand von Schwulen gegegen die Polizei, zum zwanzigsten Mal. Es bleibt zu hoffen, daß die Schwulen begreifen, daß sie heute nicht nur für ihre (sexuelle) Freiheit, sondern für ihr Überleben als Individuen und als soziale Gruppe auf die Straße gehen. In Sachen Aids wird niemand die notwendigen Forderungen erheben, wenn es die Schwulen nicht selber tun. Andreas Salmen

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