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DOKUMENTATIONDie Deutschen wollen Ruhe und Komfort

■ Leitartikel aus der französischen Tageszeitung 'Le Monde‘ vom 7.4. 92

Sobald sich jenseits des Rheins ein rechtsextremes Grüppchen zeigt, sobald sich eine Welle von Gewalt gegen Einwanderer entwickelt, breiten sich überall Warnungen aus vor einem Wiederaufleben des neonazistischen Krebses bei unseren Nachbarn. In den letzten Jahren haben die Deutschen die Dinge gelassen genommen. Sie hatten leichtes Spiel mit der Antwort, daß die Rechtsextreme in Frankreich viel schneller voranschreite als bei ihnen, daß sie sich hier viel besser eingerichtet habe, daß die „Front National“ viel bessere Ergebnisse erziele als die „Reps“ des früheren Waffen-SS-Mannes Franz Schönhuber. Die Ergebnisse der jüngsten Regionalwahlen in Frankreich zeigten, daß sie nicht ganz und gar unrecht hatten, und die deutsche Presse ließ es sich nicht nehmen, dies mit einer gewissen Schadenfreude (im Original auf deutsch, d. Ü.) zu unterstreichen.

Zwei Wochen später, am Montag nach den Wahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, ist Deutschland bestürzt aufgewacht. Im Widerspruch zu den Umfragen hat die Rechtsextreme einen besorgniserregenden Sprung nach vorne gemacht. Trotz der wenig empfehlenswerten Glaubensbekenntnisse der Führer der „Republikaner“ im Süden (angrenzend ans Elsaß) und der „Deutschen Volksunion“ im Norden, und ohne die Gefahren des Phänomens geringzuschätzen, scheint es sich doch mehr um eine Protestwahl zu handeln als um ein wirkliches Einverständnis mit neonazistischen Thesen. Den beiden großen deutschen Parteien ist es nicht gelungen, die Unzufriedenheit zu kanalisieren.

Verschiedene Untersuchungen beweisen, daß die meisten Deutschen nicht den Ehrgeiz haben, Europa wirtschaftlich und politisch zu dominieren. Sie träumen eher von „Neutralität“ und persönlichem Komfort. Die Westdeutschen befürchten, daß ihr Wohlstand von verschiedenen Seiten bedroht ist. Der Zustrom der Asylbewerber (35.000 im März), der Preis der Wiedervereinigung, der Anstieg von Inflation und Arbeitslosigkeit und die Wohnungsprobleme (500.000 Neuankömmlinge in Baden-Württemberg innerhalb von drei Jahren) haben heftige Reaktionen ausgelöst. Darüber hinaus ist jedoch auch Mißtrauen gegenüber dem Europa von Maastricht entstanden, das den Vorstoß der Rechtsextremen erklärt.

Die Rechtsextreme ist vor allem gegen den Verlust der nationalen Identität in den Wahlkampf gezogen, der sich im langfristigen Verschwinden der Deutschen Mark zugunsten der europäischen Einheitswährung ausdrücke. Die Länder haben Angst, daß die europäische Integration ihre Rechte beschneiden wird. Es ist nun Aufgabe der deutschen Führungspolitiker, aber auch derjenigen der anderen europäischen Länder und insbesondere der Franzosen, das Ausmaß dieses Mißbehagens zu ermessen und diese Befürchtungen zu besänftigen, die sich nun in einem Ablehnungsvotum ausgedrückt haben.

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