DOKUMENTATION: Sarajevo steht in Flammen
■ Emir Kusturica, Regisseur von „Zeit der Zigeuner“, richtet einen flammenden Appell an Europa
Europa, Du veränderst gerade das Gesicht der Balkan-Halbinsel — vergiß nicht, daß Dich das auch verpflichtet, den Krieg zu stoppen, der da wütet. Wilde Horden schießen von den umliegenden Bergen Granaten auf meine Stadt. Sarajevo liegt in Blut und Tränen, in Jugoslawien bringen sie sich gegenseitig um. Wiedervereinigtes Europa: Wenn Du neue Staaten auf dem jugoslawischen Gebiet schaffst, mußt Du Dir auch darüber im klaren sein, daß Du die Verantwortung übernimmst für das Blut, das da fließt, für die Tränen der Kinder und die Verzweiflung.
Während die wütenden Hunde in Sarajevos Hügeln Bomben schicken und die Reste der mittelalterlichen Stadt zerstören, ruft der gegenwärtige Präsident — ein General ohne Armee, Präsident in einem Land ohne Grenzen — zur Verteidigung der Demokratie um den Preis des Bluts auf. Europa, es ist keine Zeit für politische Analysen, alle politische Vernunft ist hier schon tot, man kann nur noch versuchen, den Brand zu löschen: Europa, meine Stadt steht in Flammen! Da fallen Granaten statt Frühlingsschauern. Ich weiß, daß es schwer ist, meinen Aufschrei zu verstehen, während in Paris die ersten Schritte zur Demokratie schon vor zweihundert Jahren getan wurden — und alle Pariser Plätze schwammen in Blut. Trotzdem, Europa, laß nicht Sarajevo am Ende des 20. Jahrhunderts werden, was Paris einmal gewesen ist, denn die neue Ordnung stellt sich heute nicht mehr her wie im 19. Jahrhundert. Europa, dies ist das Ende des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan! Das Chaos des Völkerkriegs ist schon vor Hunderten von Jahren auf dem Balkan eingeführt worden: Hier sind die größten Reiche zerrissen, hier hat sich das Römische Reich zweigeteilt, ins Oströmische und Weströmische, hier schlug die letzte Stunde des Ottomanischen Reichs, hier wurde die Habsburgermonarchie beerdigt.
Europa, die Konfrontation der bosnischen Muslims und der bosnischen Serben ist nicht echt, sie ist gemacht, sie ist auf den Trümmern der versunkenen Reiche entstanden, die ihre Asche hier zurückließen. Sie wird von nationalistischen Bewegungen geschürt, die allen Verstand verloren haben. Es ist DEIN Brand, DU mußt ihn löschen.
Es ist Zeit, Dein Gewissen zu prüfen, Europa, falls Du existierst.
Copyright: 'Le Monde‘, 24.4.1992
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
